Now Reading
Anita Tillmann | „Eins und eins kann elf ergeben“

Anita Tillmann | „Eins und eins kann elf ergeben“

Die Fashion Week zieht von Berlin nach Frankfurt. Das ist nicht nur in puncto Glamour ein ungewöhnlicher Schritt. Der Umzug führt in die Höhle des Löwen. Mit weltweit mehr als 60 Textilmessen ist die Messe Frankfurt direkte Konkurrenz für die Messegesellschaft Clarion, zu der die Premium Group inzwischen gehört. Anita Tillmann verrät, wie daraus Stärke entsteht und warum physische Treffen wichtiger denn je sind. 

Interview: Stephan Huber. Text: Petrina Engelke. Fotos: Lottermann and Fuentes 

Anita, alle erwarten von dir eine völlige Neuerfindung der Messe. Du magst Druck, oder? 

Ja, wir erfinden uns neu. Neue Stadt, neue Location, neue Profile und neue Themen. Außerdem tun wir das, was wir am besten können: relevante Player auf allen Ebenen miteinander zu vernetzen. Das ist umso wichtiger, als dass wir vor nie dagewesenen Umbrüchen stehen. Wir sind zwar keine Heilsbringer, aber die Plattform und der Live-Event, auf der die Gespräche und der Austausch stattfinden und sich alle persönlich treffen können. Wir sind Impulsgeber für unsere Branche und hoffen, dass alle mitmachen. Es braucht den echten und ehrlichen Austausch mit Fokus aufs Geschäft. 

Was versprichst du dir von einem Standort, mit dem kaum jemand gerechnet hätte? 

Ein solcher Schritt ist für uns ja nicht ganz neu. Als wir uns 2002 gegen Düsseldorf und Köln und für Berlin entschieden haben, war Berlin damals auch undenkbar, zumal wir keinerlei Messeerfahrungen hatten. Nach fast 20 Jahren ziehen wir weiter. Wir brauchen ein neues Narrativ, denn „arm und sexy“ als Kulisse für die Modebranche und für unser Geschäftsmodell ist zu Ende erzählt. Auch dem Ruf der Branche, alles an einem Ort stattfinden zu lassen, können wir in Berlin nicht nachkommen, dort fehlen die passenden Locations. Frankfurt ist schon knapp 800 Jahre lang der Handelsplatz Europas, zentral in Deutschland gelegen und auch für internationale Kunden sehr gut erreichbar 

In Sachen Mode ist Frankfurt allerdings ein unbeschriebenes Blatt. Ist genau das eventuell sogar eine besondere Qualität? 

Richtig. War Berlin ja auch. Es ist sehr viel leichter ein unbeschriebenes Blatt Papier neu zu gestalten. Im Zuge der Pandemie wechseln wir allerdings nicht nur den Standort, sondern die Perspektive, es findet ein Paradigmenwechsel statt. Sustainability und Digitalisierung sind die Hauptthemen, die unsere Branche beeinflussen. Das Konzept der Fashion Week wird neu gedacht.  Die Fashion Week ist kein Einzelevent, sondern ein vernetztes Hybrid-Event, das sich an das gesamte Ökosystem der Mode richtet. Nächsten Juli finden Runways, Messen, Konferenzen, Show Stages, Awards und Off-site-Events orchestriert, kuratiert und inszeniert statt. Und zwar für B2B und B2C. Auch die Stadt wird ein lebendiger Ort für eine inklusive und diverse Fashion Week.  

Marketplace for Ideas.  Was bedeutet das? 

Wir definieren und positionieren unsere Messeformate neu. Vom Marketplace of Product hin zum Marketplace of Ideas heißt, dass es nicht nur um die Kollektion an sich geht, nicht mehr nur um den Wareneinkauf ohne Rücksicht auf Storytelling, Digitalisierung oder das Thema Nachhaltigkeit. Es geht um den ganzen Kontext. Geschäftsbeziehungen müssen weiterhin gestärkt und neu geknüpft werden. Wissensaustausch wird interdisziplinär auf den Contentformaten gefördert und Trends werden inszeniert und präsentiert. Unsere Aussteller müssen umdenken, denn die Besucher erwarten Innovationen, Werte, klare Positionierung, gemeinsame analoge und digitale Konzepte für den Handel. 

Durch die Pandemie waren viele Veranstalter gezwungen, sich mit digitalen Alternativen zu befassen. Gleichzeitig ist die Sehnsucht der Menschen nach Begegnung größer denn je. Ein zusätzlicher Boost für die Frankfurt Fashion Week? 

Im Gegensatz zu unserem digitalen Format werden die Messen in Frankfurt richtige Live-Events. Wir Menschen sind sinnliche Wesen und wir brauchen Emotionen und Kommunikation. Das Feedback aus unserem Händlernetzwerk und von Seiten der Aussteller ist eindeutig: Ein physisches Treffen ist unglaublich wichtig. Die Pandemie hat die Kritiker verstummen lassen, die Messen generell in Frage gestellt hatten. Die Informationen, die Impulse, die wir beim Zusammentreffen austauschen, kann man nicht durch einen Zoom-Call ersetzen. Wir brauchen diese großen Treffen, aber nur zweimal im Jahr, konzentriert und fokussiert. 

Wenn alle von dieser neuen Plattform präsentieren, ihr Netzwerk und Wissen erweitern und ihr Business auf unterschiedlichen Ebenen voranbringen, sollten dann nicht vielleicht auch alle einen Beitrag leisten, der dem gerecht wird? 

Du fragst, ob die Besucher Eintritt bezahlen sollten? Besser wäre es mindestens einen weiteren Tag mit einzuplanen. Man kann keine qualitativ guten Gespräche führen, sich inspirieren lassen, Informationen aufnehmen und Brands sichten, wenn man sich dafür nicht angemessen Zeit nimmt. Die Einkäufer sind total gestresst. Mein Appell an den Handel ist ganz klar: Bitte planen sie mehr Zeit ein! Und geben Sie auch Ihren MitarbeiterInnen die Chance, an diesem vielseitigen Austausch zu partizipieren. Auch und gerade der jungen Generation! Das lohnt sich auf jeden Fall.   

Was bedeutet „gutes Miteinander“ denn zwischen euch und der Messe Frankfurt? 

Wir sind eigentlich Konkurrenten, keine Frage und die Premium Group mietet sich zudem ganz normal in der Messe Frankfurt ein. Aber die Messen und Konferenzformate der Premium Group und der Messe Frankfurt finden zum allerersten Mal gemeinsam auf einer Fläche statt und zwar integrativ und als Ganzes präsentiert, gender- und genreübergreifend, inklusiv und divers. Damit bieten wir einen Mehrwert für alle Teilnehmer. Weg vom Konkurrenzkampf hin zur Zusammenarbeit ist unsere Devise. Das hat es in der Form noch nie gegeben.  

Gemeinsam mit der Messe Frankfurt präsentieren wir zusätzlich ein ganz neues Projekt nächsten Sommer. Wir gründen zusammen ein innovatives Format „The Ground“, eine neue Jeans- und Lifestyle-Messe mit Fokus auf Nachhaltigkeit. Dahinter steckt unsere Haltung, eins und eins kann elf ergeben. Nein, ich bin nicht schlecht in Mathe, aber das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Nur wenn wir gemeinsam nach vorne gucken und unsere Stärken verbinden, können wir etwas Neues kreieren. Unser Ziel ist es einen Ort zu konzipieren, an dem sich unsere Branche für die nächsten 30 Jahre trifft und den Herausforderungen unserer Zeit stellen kann.  

View Comments (0)

Leave a Reply

Scroll To Top