Now Reading
Renzo Braglia | „You always have to see what’s next“

Renzo Braglia | „You always have to see what’s next“

Lorenzo Braglia | style in progress

„Die Fragmentierung unseres Markts ist verrückt – und essenziell“

Renzo Braglia hat 2010 begonnen, aus einer italienischen Distributionsagentur eine der führenden paneuropäischen Agenturen zu schmieden. Mit Showrooms in Mailand, Paris, London, Antwerpen, Madrid, Kopenhagen und Düsseldorf ist die Brama Group bestens aufgestellt – jetzt zündet der Geschäftsmann aus Modena eine neue Stufe seines Businessmodells. Das Netzwerk aus Europas führenden unabhängigen Modestores will er mit Seamless Commerce auch Marken zugänglich machen, die nicht im Vertrieb der Brama Group sind. Der Vorteil für Buyer: Seamless Commerce übernimmt das finanzielle und operative Risiko, bei diesen oft erst aufstrebenden Marken einzukaufen. Warum? „Weil es wieder Spaß machen muss, in dieser Branche zu arbeiten.“

Interview: Stephan Huber, Martina Müllner. Text: Martina Müllner. Fotos: Cassandra Grisendi

Renzo, du hast einen intensiven Nachdenkprozess über die Geschäftsbeziehungen in unsere Branche gestartet.

Renzo Braglia, Gründer Brama Group und Seamless Commerce: Ich möchte ein bisschen ausholen: Ich bin leidenschaftlich davon überzeugt, dass man immer sehen muss, was als nächstes kommt – auch wenn der Status quo eigentlich ja gut funktioniert. Dieses Gefühl, dass uns ein disruptiver Wandel bevorsteht, habe ich ja nicht alleine. Da ist es natürlich, dass man sich selbst und seine Art, Geschäfte zu machen, in Frage stellt.

Zu wechem Zweck?

Um den Wandel aktiv zu gestalten. Es liegt mir nicht, darauf zu warten, dass Veränderung kommt. Ich will vorangehen. Als ich 2010 begonnen habe, in ganz Europa statt nur in Italien Showrooms zu eröffnen, haben auch alle erst einmal gedacht, jetzt sei ich verrückt. Heute zeigt sich, dass die Vision richtig war.

Wie kommt man vom Gefühl, dass sich etwas ändern muss, ins Handeln oder zunächst zu den Handlungsfeldern?

Mit Daten. Wir haben zunächst damit begonnen, gemeinsam mit unserem Factoring-Partner zu analysieren, mit wie vielen Marken allein die in der Camera Buyer organisierten Topläden Italiens Geschäfte machen. Die Zahl ist überwältigend – nicht im Segment Luxus und High-End-Designer, da sind die Zahlen überschaubar groß und jeder, der Erfahrung in der Mode hat, kann diese Brands aufzählen. Die Überraschung kam im Segment, das wir Advanced Contemporary nennen: stolze 931 Marken. Noch mal zur Verdeutlichung: 108 Läden kauften im Jahr 2022 bei 1039 verschiedenen Marken und davon eben 931 Namen, die nicht in den Bereich Luxus und HighEnd-Designer fallen. Das war auch für uns eine Überraschung und zeigt: Da ist viel Lust auf das Besondere, Unbekannte, Aufstrebende. Die Buyer haben Hunger auf diese Marken, die das Salz in der Suppe ausmachen.

Die 931 Marken sind aber gleichzeitig die, die das Buying so aufwändig machen, oder? Diese Marken gilt es ja zu entdecken, zu verfolgen, den Kontakt anzubahnen, sie kennenzulernen.

Ja und nein. Sie zu entdecken, ist der Teil, den Buyer gerne machen, und es ist so wichtig, dass dieser Teil des Jobs mit Leidenschaft gelebt werden kann. Denn. was passiert, wenn im Scouting schon nur Sicherheit und Zahlen regieren, kann man in vielen langweilig gewordenen Sortimenten sehen. Neuheit und Spannung sind die Essenz des Buyings.

Gut, aber den Background-Check bei jeder dieser Marken zu machen, herauszufinden, ob man diesen wunderschönen Strick eines peruanischen Herstellers auch kaufen, durch den Zoll bringen und rechtzeitig im Laden haben kann, würde man sich gerne ersparen. Ein Grund, warum es Agenturen gibt, weil deren Name in gewisser Weise eine Garantie gibt.

Natürlich und bei allen Brands, die über ein gewisses Umsatzniveau kommen, ist eine Agentur auch der richtige Weg, um ein Business langfristig auszubauen. Aber es gibt einen limitierenden Faktor, der nicht beliebig skalierbar ist: Sales. In keiner Agentur der Welt gibt es die Menschen und den Platz für 931 Marken.

Und selbst wenn es Menschen und Platz hypothetisch in unbegrenzter Zahl gäbe, gibt es je Agentur auch ein Limit an Marken, das ein unabhängiger Buyer dort kauft.

Genau, selbst wenn eine Agentur den besten Job der Welt macht, mehr als zwei Tage am Stück verbringt kein Buyer in einem Showroom. Dann gibt es viele psychologische Faktoren und ganz konkrete Argumente, die einem Buyer berechtigt sagen: So, jetzt habe ich genug bei dieser Agentur gekauft. Ich gehe sogar noch weiter: Ich bin überzeugt, dass gerade bei neuen Marken Sales in die Hände der Marke gehört. Niemand kann glaubhafter die Geschichte erzählen, niemand kann das Brand-Environment überzeugender darstellen. Und Sales ist ja grundsätzlich kein Hexenwerk: Wie kompliziert ist es, einen Stand auf der White zu buchen oder einen Showroom im Marais?

Jetzt kommt gleich ein Aber …

(Lacht) Genau! Marken in diesem Stadium wissen viel zu wenig über den Markt und seine Player, sie kennen oft weder ihre Zielkunden noch wissen sie, welchem der Buyer sie vertrauen können. Sie stellen vermeintlich dumme Fragen: Wie heißt Ihr Laden, welche Marken führen Sie? Oder sie fordern von einem solventen Kunden Vorauskasse und treten damit dem Einkäufer auf den Schlips, noch bevor sie ihn gewinnen konnten.

Dumme Fragen sind für diese Marken überlebenswichtig.

Ja, aber wenn es darum geht, Fehler zu verhindern, dann ist genau das ein Hebel: Dass sich nicht auf jedem Messestand oder in jedem Showroom Marken und Händler einander vorstellen müssen, sondern dass die Marke schneller verifizieren kann, dass es sich um einen vertrauenswürdigen Kontakt handelt.

Okay, jetzt wird es spannend.

Nein, super easy. Als Brama Group arbeiten wir seit vielen Jahren in ganz Europa mit den besten Händlern. Die 1.850 Läden, um die es geht, von denen wissen wir viel, können das Risiko bewerten und aufgrund von Daten grünes Licht für eine Geschäftsbeziehung geben.

Wie viel Banker spricht da aus dir? Du bist ja als Distributeur mit vielen US-Marken gewohnt, dass du Zoll- und Währungsrisiken vorausschauend planen musst.

Wir haben einen wesentlichen Teil dieser Daten gemeinsam mit unserem Factoring-Partner erhoben und ich finde, in der heutigen Welt sollte es keine Diskussion darüber geben, dass wir finanzielle Transparenz brauchen. Risiko hemmt mutigen Einkauf, das ist ein weiterer Fehler, den wir lösen wollen.

Weil ihr das Risiko bewertet?

Weil wir das Geld auf den Tisch legen. Die Marken verkaufen quasi ihre Aufträge an uns, bekommen sofort ihr Geld und wir kümmern uns dann um das gesamte Thema Operations: Auslieferung, Customer-Service, Reklamationen, Zahlungsfluss.

In dieser Zwischenfinanzierung steckt vermutlich eurer Erlösmodell?

Natürlich ist Seamless Commerce ein Business Case für uns, sonst würden wir es nicht machen. Die drei Säulen sind Strategie, Sales und Operations. Jeder kann sich auf seine Kompetenzen konzentrieren: Die Brand auf Kreativität und Sales, wir auf Strategie und Operations und die Buyer auf Einkauf und Sortimentsgestaltung. Aktuell ist jeder mit administrativen und finanziellen Dingen überfrachtet, das killt den Spaß.

Steile These: Glaubst du, dass unsere aktuelle – und zum Teil ja nur gefühlte – Krise im Modehandel darin begründet ist, dass sich gerade niemand die Finger an Neuem verbrennen will?

Unsere Branche hat jetzt einige Jahre versucht, aus der Mode eine Form der Finanzwirtschaft zu machen, und das klappt nicht. Wir brauchen dringend den Spaß zurück, besonders im Einkauf. Es darf nicht schwer sein, sich für etwas zu entscheiden, womit man seine Kunden überraschen kann.

Am Angebot mangelt es ja nicht – 931 Independent Brands habt ihr bei 108 italienischen Läden gezählt, das ist ein reicher Boden für Individualität. Und täglich kommen neue.

Viele Marken laufen aktuell durch einen Filter. Das tun wir mit unseren Showrooms ja auch: Wir nehmen nur auf, was zu unserem Stil und dem Geschmack unserer Kunden passt und europäisches Potenzial hat. Da fallen viele Marken durch, ein Hersteller von lauten, strassbesetzen Lederjacken wird niemals in den Showrooms der Brama Group landen, weil es nicht unser Stil ist. Aber wer sagt, dass nicht einer unserer Händler genau diese Lederjacke sucht? Mit Seamless Commerce fallen die stilistischen Urteile über Brands weg, das ist auch für uns eine völlig neue Erfahrung. Ich habe mein Leben lang viele meiner Entscheidungen auf Geschmack fußen lassen, zwangsläufig, weil ein Mitarbeiter im Showroom nicht dauerhaft etwas verkaufen kann, wo er nicht dahinter steht. Wenn wir Sales aber jetzt bei der Marke belassen, dann steht da der Typ, der leidenschaftlich für seine strassbesetzen Lederjacken brennt und ganz genau erklären kann, was sie so besonders macht. Außergewöhnliche Produkte brauchen diesen Enthusiasmus aus erster Hand.

Reagierst du in gewisser Weise auch auf einen jetzt schon spürbaren und künftig noch viel drastischeren Personalmangel in den Showrooms?

Das ist eine gute Frage – ja, ich ahne, dass es schwieriger wird, gute Leute zu finden und zu binden, aber selbst wenn wir an einem Brama Showroom 100 gute Mitarbeitende auf 15.000 Quadratmeter hätten – auf dieser Ebene ist das Geschäftsmodell nicht skalierbar. Agenturen, selbst wenn sie wie wir europäisch aufgestellt sind, haben eine Wachstumsgrenze. Da bin ich Realist.

Ist das eine Absage ans Modell Agentur?

Im Gegenteil. Hätten wir gerade unseren wunderschönen neuen Showroom in Antwerpen eröffnet, wenn wir nicht voll an dieses Modell glauben würden? Ab einem gewissen Umsatzvolumen bin ich überzeugt, dass eine Agentur das strategische Wachstum einer Marke befeuern kann. Der Schritt in eine Agentur macht aus einer Idee ein Geschäftsmodell und wenn sich eine Marke dauerhaft verankern will, dann braucht sie die Kraft einer Agentur.

Wie stellt man sicher, dass eine Marke nicht schon in den Saisons, bis sie reif für eine Agentur ist, Fehler macht?

Mit strategischer Beratung. Das ist im Gegensatz zu Sales etwas, was man sehr wohl skalieren kann. Wenn wir eine Marke vor uns haben, können wir schnell sagen, in welche Läden sie passt und bei welchen Einkäufern sie erst gar nicht anklopfen muss. Dieses Wissen aus erster Hand beschleunigt so viel, man startet ohne Vertriebsfehler, die man später korrigieren muss. Und man kann gleich in mehreren Märkten starten. Nehmen wir Spanien. Wir alle in dieser Runde sind tief im Thema Independent Retail. Aber wer das nicht ist, was weiß der schon über den Markt in Spanien?

Viel mehr als die drei naheliegenden Namen würden uns beiden in Spanien auch nicht einfallen.

Eben, aber es gibt 150 tolle Läden, mit denen man Spanien solide aufbauen kann. Wer hätte das gedacht? Das hat man als kleine Marke nicht auf dem Schirm.

Zumal: Vielleicht ist für eine Marke ja auch nicht der erstbeste Laden gut, sondern die Nummer zwei, Nummer drei, die es ja in jeder Stadt gibt und die strategisch vielleicht sogar der bessere Fit sein kann.

Richtig. Das sind Entscheidungen, die die Marke viel schneller treffen kann. Und vor allem unbeeinflusst von Befindlichkeiten.

Weil bei einer Agentur auch immer die Geschichte mit jedem Kunden mitschwingt?

Natürlich versucht man, sich von solchen Dingen so frei wie möglich zu machen, aber klar, wir sind alle Menschen und zwischen den einen stimmt die Chemie, zwischen anderen nicht. Durch Seamless Commerce hat die Marke eine Chance, ihren eigenen Chemistry-Check mit einem Händler zu machen.

Jetzt müssen wir es einmal konkret durchspielen. Eine Marke, die auf der Plattform sein will und die Eintrittskarte für diesen Kosmos löst, zahlt …

… einen Betrag, der niedriger als im klassischen Distributorenmodell ist, denn es entfallen ja die Prozentpunkte für Sales. Für diesen Betrag liefern wir die strategische Beratung, die Kontakte und sichern die gesamte Finanzierung der Ware. So bald produziert ist, bekommt die Marke ihr Geld. Das löst markenseitig viele Probleme. Denn gerade die kleinen Labels werden in der aktuellen Hackordnung zuallerletzt bezahlt, während sie umgekehrt bei ihren Lieferanten und Produzenten als erste bezahlen müssen, weil sie eben keine große Brand sind. Diese lange Zwischenfinanzierungszeit lässt viele Marken straucheln und das Schlimme ist: Erfolg macht dieses Problem größer, weil dann immer mehr vorzufinanzieren ist.

Verstanden. Betrachten wir die andere Seite, bitte: Ich gehe als Einkäufer über die White …

… und entdecke bei einer spannenden peruanischen Brand das Seamless Commerce Logo und weiß damit, dass ich drei Minuten später meine Order in einem System, das ich bereits kenne und das mich bereits kennt, geschrieben habe.

Das ist ein Gamechanger, zumal es vermutlich ja nicht nur auf Messen Gelegenheit geben wird, die neuen Marken auf der Plattform kennen zu lernen.

Genau, wir informieren unsere Accounts regelmäßig über Neuzugänge auf der Plattform und gleichzeitig bekommen die Marken speziell für sie ausgewählte Empfehlungen, an welche Händler sie sich bevorzugt wenden sollen. So können sie aktiv auf die Läden zugehen.

Greifst du damit das Geschäftsmodell von Messen an?

So wie ich unsere Branche bisher kenne, lassen sich die allerwenigsten Einkäufer entgehen, eine Marke irgendwo physisch zu entdecken, das rein virtuelle Scouting von Brands hat sich ja schon zu Corona-Zeiten nicht bewährt. Diese Lektion haben Buyer und Marken gelernt. Aber ich nütze die Antwort auf die Frage, um noch mal zu verdeutlichen: Es geht nicht darum, den Fokus der Buyer kleiner zu machen, das Gegenteil ist der Fall. Die Fragmentierung unseres Markes ist verrückt, aber essenziell! Wir brauchen all diese 931 Marken, um dem Wunsch nach Individualität der Einkäufer, aber vor allem der Endkunden zu entsprechen.

Und wo genau ist der Unterschied zu Plattformen wie Joor, die im Zweifel ja auch von sich behaupten würden, dass sie immer wieder einladen, spannende Brands zu entdecken?

In der geringeren Komplexität. Der Einkauf muss nicht für jede Marke separat AGBs, Lieferbedingungen, Zahlungskonditionen studieren. Es gelten die AGBs von Seamless Commerce, das macht auch alle nachfolgenden Prozesse einfacher: Re-Order, Austausch, das sind dann nicht mehr 931 verschiedene Vertragswerke, sondern eines, geschlossen mit einem Geschäftspartner, den man schon kennt.

Wie träumst du dir die Zukunft des Zusammenspiels aus Einzelhandel, Agenturen und Marken?

In meiner idealen Welt tut jeder das, was er am besten kann. Ein Händler wird nicht durch so viel Administratives wie heute an mutigen Entscheidungen gehindert, eine Agentur ist dann im Spiel, wenn sich ihr riesiger Aufwand rechnen kann, eine neue Marke braucht nicht erst einen CFO, um in den Markt einzutreten. Das alles bringt mich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück: Ich habe mir lange den Kopf darüber zerbrochen, wie Leichtigkeit und Spaß wieder in unser Business zurückkehren können. Das ist unsere Antwort.

Seamless Commerce
Buyer to Brand to Buyer. Aus diesem Zusammenspiel hat Renzo Braglia, Inhaber des europaweit tätigen Agenturnetzwerks Brama Group, eine neue Businessformel gemacht: Seamless Commerce macht daran partizipierenden Marken die Daten von Europas „Rockstar Buyers“ zugänglich – in einer strategischen Beratung werden die richtigen Läden mit den passenden Konzepten gematcht, die Sales-Aktivitäten liegen dann in Händen der Marke. Ob die Brand die Einkäufer zu Messen oder in Showrooms einlädt, die Händler besucht oder auf andere kreative Weisen anspricht, ist Sache der Brands. Denn niemand kennt, inszeniert und erzählt sie besser als die Marken selbst, so die These. Buyern bietet das Seamless Commerce System Sicherheit, weil Auslieferung, Faktura, Retouren und Service komplett an die erprobten Brama-Strukturen in Modena übergehen. Die Marke erhält ihr Geld für die produzierte Ware sofort und ist damit von vielen operativen Prozessen freigespielt, um ihre Energie auf Kreation, Kreativität, Sales und Brandbuilding zu konzentrieren. 

Scroll To Top