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Ann Berry | Läden sind wie Live-Konzerte

Ann Berry | Läden sind wie Live-Konzerte

Als man Ann Berry riet, als Frau in der Private-Equity-Branche kurze Haare zu tragen und auf keinen Fall witzig zu sein, verließ sie den Raum.

Nach einigen milliardenschweren Deals zog es sie in die Industrie und sie besetzte diverse CEO-Positionen. Das machte sie nicht nur zur Business-Insiderin mit feinem Gespür für mutige Entscheidungen, sondern auch zur gefragten Analystin im Live-Fernsehen und einer der gefragtesten Keynote-Speakerinnen. Nach mehr als 15 Jahren an der Wall Street, davon elf Jahre bei Goldman Sachs, gründete Ann Berry 2021 ihr eigenes Unternehmen Threadneedle. Hier investiert sie nicht nur Kapital, sondern auch ihr Know-how, ihr Netzwerk und ihre Expertise.

Im Interview mit Stephan Huber spricht Ann Berry über diesen ganzheitlichen Ansatz, über Kreativität als universelle Quelle und die drei wichtigsten Zukunftstrends für den Handel.

Interview: Stephan Huber. Text: Isabel Faiss. Fotos: Ann Berry

Als Frau sind Sie in Branchen erfolgreich, die immer noch sehr männlich konnotiert sind – wie Investmentbanking und Zukunftstechnologien. Sind Sie Teil eines Wandels oder ist das für Sie letztlich kein Thema?

Ann Berry, Gründerin Threadneedle: Als ich Anfang der 2000er-Jahre meine Karriere in London begann, sprach niemand über Frauenquoten oder Chancengleichheit. Erst später in den USA hörte ich viele Diskussionen darüber und mir wurde bewusst, dass ich die einzige Frau in meinem Büro war. Zu Beginn meiner Karriere wurde ich für die Teilnahme an einem Programm für weibliche Führungskräfte im Finanzwesen nominiert und ich werde nie vergessen, wie diese gelackten Unternehmensberater hereinkamen und ihre Powerpoint-Folien zeigten, auf denen stand: „Unser Rat für Frauen in Führungspositionen ist, keine langen Haare zu tragen, dafür nur schwarze Hosenanzüge und NIEMALS bei der Arbeit lustig zu sein.“ Sie zeigten uns einige Daten und rein empirisch betrachtet hatten sie Recht, wenn es um den einfachsten Weg zum Erfolg geht – das wusste ich selbst. Trotzdem habe ich es ignoriert, weil das nicht ich bin, vor allem, wenn es um Humor geht. Lachen hält die Welt in Schwung!

Meiner Meinung nach sind Daten nichts wert, wenn man nicht in der Lage ist, die richtigen Fragen zu stellen.

Und wenn man nicht in der Lage ist, diese Daten authentisch einzusetzen. Ich verlasse mich immer auf meinen Instinkt, denn er ist stärker als das, was Daten mir diktieren. Aber um auf Ihren Punkt zurückzukommen: In der Finanzbranche kann ich Ihnen sicher jede einzelne Frau nennen, die Private-Equity-Geschäfte mit Milliardenbereich abwickelt. Weniger als drei Prozent der großen Dealmaker sind weiblich und wir müssen auf die nächste Generation warten, um das zu ändern.

Ich sehe noch einen bedeutenden Wandel in Ihrer Branche: weg vom schnellen Wachstums um jeden Preis mit dem Hauptziel eines optimalen Exit Case, hin zu der Prämisse, nachhaltiger zu wirtschaften. Oder bin ich zu romantisch?

Wenn Sie mich fragen, ob Wachstum um jeden Preis als Investitionspraxis überholt ist, definitiv – aber nicht aus Leidenschaft für Nachhaltigkeit. Darin sind sie romantisch. Es gibt immer noch zu viele Verbraucher, die den größten Teil ihrer Ausgaben nicht für Produkte ausgeben, die nachhaltig sind. Das ändert sich zwar, aber nur langsam, und es ist ein sehr komplexes Thema.

Aus Sicht der Finanzmärkte haben wir 2023 gesehen, dass viele Investoren und Unternehmen in Branchen Geld verloren haben, weil sie sich zu sehr auf den Umsatz konzentriert haben und nicht auf die Profitabilität. Für Unternehmen, die an die Börse gehen wollen, bedeutet das tatsächlich eine Veränderung. Zum ersten Mal seit Jahren müssen sie ihren Weg in die Rentabilität aufzeigen. Das wird sich wahrscheinlich wieder ändern, wenn die Zinssätze sinken. Aber im Moment sagt die kalte, harte Mathematik, dass eine Steigerung des Umsatzes mit allen Mitteln keine akzeptable Strategie ist. Das ist die geschäftliche Seite. Und dann ist da die vielleicht noch interessantere Frage: Werden längerfristige Ziele wie das Wohl der Menschen oder ökologische Nachhaltigkeit wirklich zur Priorität für Unternehmen? Priorität im Sinne von messbarem Erfolg. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns in diese Richtung bewegen, aber nicht auf einem linearen Weg. Shein ist ein gutes Beispiel dafür, dass das Geld noch nicht dieser Ideologie folgt: die Gen Z sorgt sich am meisten um Nachhaltigkeit und Klima. Gleichzeitig sind sie die größte Kundengruppe dieses Fast-Fashion-Händlers, der überhaupt nicht auf Nachhaltigkeit ausgelegt ist.

Gibt es eine idealisierte Sicht auf die GenZ?

Was das Konsumverhalten angeht, auf jeden Fall.

Caroline Brown, ehemals CEO bei Donna Karan International und bei Closed Loop Partners, sagte in einem Interview 2021 zu mir: „Kapital ist das Lebenselixier des Wandels.“ Würden Sie dem zustimmen?

Ich würde sagen, Kreativität ist das Herz, das den Kreislauf am Laufen hält. Und ich spreche nicht nur von Kreativität im klassischen, künstlerischen Sinne. Auch im Sinne von bahnbrechender Innovation, die unerprobte oder unkonventionelle Wege geht. Kreativität ist die Vision, die den Wandel erzwingt und das führt zu der Frage: Was bedeutet es, einem Unternehmen eine hybride Betriebskapitallösung zu bieten, wie ich es bei Threadneedle tue? Ich glaube nicht, dass Kapital allein Probleme löst oder einen Mehrwert für Unternehmen schafft, wenn es sich in einem Vakuum befindet. Es ist nur ein Werkzeug von vielen. Genau das bringe ich mit meinem Unternehmen ein. Ich werde nicht investieren, nur um zu investieren. Ich werde nur dann investieren, wenn ich etwas beitragen kann, sei es Kreativität, mein Netzwerk oder Ideen. Und dann helfe ich den Unternehmen, die ich unterstütze, indem ich die Dinge mit ihnen umsetze, die dieses Gesamtpaket ermöglicht. Man kann alles Kapital der Welt haben, aber wenn man nicht die Vision und die Kreativität hat, wie man es ausgeben soll, wird es einfach nur herumliegen.

Kreativität gilt aber auch als Kostenfaktor „in den Exceltabellen“

In der Vergangenheit haben Finanzfachleute Kreativität auf eine begrenzte Art und Weise definiert, eher als Ausgaben für Werbung oder Marketingkampagnen. Heute bedeutet Kreativität Aufgeschlossenheit für neue Produkt, Wege und Ideen. Ich habe die meiste Zeit meiner Karriere in großen Traditionsunternehmen unter anderem in der Konsumgüterindustrie verbracht. In letzter Zeit arbeite ich aber mit kleineren, jüngeren, hungrigen und innovativen Technologieunternehmen zusammen. Es fasziniert mich immer wieder, wenn diese beiden Welten aufeinandertreffen. Wie bringt man diese abgeklärten Großunternehmen dazu, neue Technologien zu übernehmen, die junge Talente entwickeln? Natürlich können Tabellenkalkulationen einen Wert darstellen und die Zahlen können Türen öffnen. Doch viele junge Unternehmen erklären für diese Unternehmen nicht verständlich genug, wie ihre Produkte eingesetzt werden können, um einen Mehrwert zu schaffen. Und es gibt immer noch eine gewisse Abneigung gegen Veränderungen, ja. Um das zu überwinden, braucht es Kreativität.

Als Expertin für die Zukunft des Handels und des Konsumverhaltens stimmen Sie mir sicher zu, dass „Transformation“ fast ein Euphemismus für die aktuelle Entwicklung ist. Welches sind in Ihren Augen die drei wichtigsten Treiber dieses Wandels?

Als Erstes würde ich Personalisierung und Hyperkuration nennen. Vorgänger des Personalisierungstrends war in den letzten Jahren eine zu strikte Clusterung in Zielgruppen. Marken haben krampfhaft versucht, diese Cluster von Verbrauchern zu definieren, um sie ansprechen zu können. Doch wie agiert der Next-Gen-Konsument: Tiktok trainiert junge Konsumenten in Hinblick auf Hyperpersonalisierung, indem es ihm Inhalte mit einer Hypersensibilität anbietet, die ein tiefes Verständnis und ein Bewusstsein dafür vermittelt, was diese Person sehen möchte. Influencer in sozialen Medien sind für mich der moderne Conceptstore, der Produkte kuratiert und seinem Kunden extrem persönlich empfiehlt. Einzelhändler müssen heute herausfinden, wie sie der Erwartung dieser Generation gerecht werden können, die über Social Media bereits verwöhnt wurde. Es ist schwierig, Produkte mit diesem hohen Maß an Personalisierung in großem Maßstab herzustellen oder zu vertreiben (um auf Ihre frühere Frage zurückzukommen), ohne echte Kosten zu verursachen – auch für die Umwelt.

Ich sehe bei jungen Kundengruppen eine sehr klare Vorstellung davon, wofür sie bereit sind, Geld auszugeben. Diese Einstellung ist nicht unbedingt von Moral getrieben, sondern von einem erlernten tiefen Verständnis für den wirtschaftlichen Wert eines Produkts.

Genau. Die Frage ist daher, wie man Kunden diesen Wert kurz und bündig vermitteln kann. Und der zweite Trend nach Personalisierung und Hyperkuration ist für mich die Tatsache, dass sich die Art und Weise, wie Einzelhändler ihre Kunden ansprechen müssen, verändert. Wir teilen unsere Aufmerksamkeit heute auf immer mehr Geräte, Bildschirme und Plattformen auf. Daher ist die Frage der richtigen Ansprache und der Kommunikation heute entscheidend. In puncto Kundenbindung ist meiner Meinung nach das Versenden direkter und personalisierter Textnachrichten über Whatsapp oder Imessage der Weg der Wahl. Auf keinen Fall eine E-Mail. Wenn wir uns die Klickrate von Textnachrichten im Vergleich zu E-Mails ansehen, liegt sie in der Regel bei bis zu 90 Prozent, also viel höher.

Und der dritte Punkt?

Omnichannel- entwickelt sich gerade zum Omni-Sensory-Shopping. Momentan noch schleppend, denn AR und VR sind noch nicht so weit, was die Qualität des physischen Erlebnisses angeht. Der Einzelhandel experimentiert immer noch an nahtlos integrierten Omnichannel-Backend-Systemen herum. Wenn VR und AR in zehn Jahren so weit sind, implementiert zu werden, wird es noch schwieriger für alle, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Aber ich denke, das wird der dritte Teil der Transformation sein.

Welche Rolle sollte der physische Einzelhandel spielen?

Dazu habe ich eine sehr klare Meinung. Für mich ist der physische Store vergleichbar mit einem Live-Konzert. Auch wenn die meisten Menschen Musik online kaufen oder streamen, sind Konzerte immer noch so wichtig, weil die Menschen in die Performance des Künstlers eintauchen wollen. In ähnlicher Weise muss ein Store mehr sein als ein Raum, in dem Produkte verkauft wird. Nennen wir es eine Inszenierung. Wenn ich in einem Store bin, möchte ich Gerüche wahrnehmen, Geräusche hören, Produkte anfassen und tolle Bilder sehen. Ich möchte in der Lage sein, herumzuschlendern und sensorische Erfahrungen zu machen. Das ist eine allumfassende Erfahrung, die ich beim Onlineshopping nicht erleben kann. Kaufhäuser und Fachgeschäfte haben dieses Bedürfnis erkannt, auch wenn sie noch nicht die perfekte Lösung gefunden haben.

Fordern sie, dass Einzelhändler und Marken ihr Geschäftsmodell neu denken müssen?

Nein, nicht ihre grundlegenden Geschäftsmodelle. Aber Händler sollten sich viel enger mit ihren Marken abstimmen, in Bezug auf das Erlebnis, das sie in ihren Stores inszenieren wollen. Wer vermietet heute noch nur Fläche an Marken? Es geht vielmehr darum, etwas gemeinsam zu kreieren, richtig? Was macht das Theater im Vergleich zum Kino so magisch? Jedes Mal, wenn man ins Theater geht, sieht man echte Menschen live, es kann etwas schief gehen, die Schauspieler interagieren mit dem Publikum. Sie machen zum Beispiel eine Pause, wenn das Publikum lacht. Jede Vorstellung ist anders. Das ist echt. Das ist die Personalisierung des Erlebnisses. Stores müssen hier Tempo machen, um dem Verbraucher einen Grund zu geben, wiederzukommen, um dieses Gefühl erneut zu erleben – auch wenn es sich nicht um einen Fast-Fashion-Händler mit neuen Produkten alle zwei Wochen handelt. Deshalb denke ich, dass wir mehr Pop-ups sehen werden. Das ist für mich die Analogie zu lokalen Wochenmärkten, die mich immer inspirieren, wenn ich reise. Es geht um Unterhaltung. Um dieses Erlebnis bieten zu können, muss ein Store seine Mitarbeiter schulen, damit sie in der Lage sind, ihre Kunden wie Schauspieler in einem Theater zu unterhalten. Technologie kann dabei helfen. Aber am Ende ist es der Schauspieler, der Gäste dazu bringt, wiederzukommen.

Denn schließlich ist und bleibt es ein Human Business!

Genau, sonst kann man auch online shoppen. Sie müssen Ihren Kunden einen Grund geben, ihren Store zu besuchen. Ich gehe zum Beispiel ins IMAX-Kino, um mir einen Actionfilm anzusehen, weil ich den Surround-Sound und die Größe der Leinwand mag. Natürlich könnte ich mir den Film auch auf einer beliebigen Streaming-Plattform ansehen, aber ich liebe dieses Erlebnis. Ich denke, es gibt bestimmte Kategorien in der Mode und im Handel, die sich dafür besonders eignen.

Ihr Rat lautet also, die meiste Aufmerksamkeit und das meiste Geld in die Menschen im Store zu investieren und sie zu begeisterten Influencern zu machen?

Auf jeden Fall. Die Mitarbeiter in den Stores sollten Image-bildend sein. Wenn man Menschen sieht, die in einem Store arbeiten, einen coolen Style haben und so aussehen, dass sie genau wissen, wie man was trägt, kauft man diese Attitude und die von ihnen empfohlene Produkte viel lieber, weil man ihnen als Experten vertraut. Also ja, macht eure Mitarbeiter zu euren Imageträgern!

Jemand, der sich so intensiv mit der Zukunft von Luxusmärkten, Einkaufserlebnissen und Konsumverhalten befasst, muss ich einfach fragen: Wie konsumiert Ann Berry eigentlich? Wie kann eine Marke oder ein Konzept sie begeistern?

Ich gehöre nicht zu den Menschen, die stundenlang herumstöbern. Entweder kaufe ich, weil ich weiß, dass ich eine neue Jeans brauche und ein Geschäft kenne, das meine Größe und den Schnitt hat, den ich mag. Oder ich genieße zufällige Entdeckungen. Zum Beispiel auf Reisen, da kaufe ich nur ganz besondere Produkte, die ich nicht gebraucht, sondern entdeckt habe. Und ich experimentiere gerne mit neuen Marken, die mir auf Instagram gezeigt werden. Ich glaube, Instagram hat es geschafft, ein Erlebnis zu inszenieren, das sich wie eine zufällige Entdeckung auf einer Reise anfühlt, wo man das Gefühl hat, dass es ein Glücksfall ist, wenn man ein Produkt findet. Aber das ist es natürlich nicht. Das Prinzip ist das gleiche wie bei Filmempfehlungen auf Netflix, ein Algorithmus. Und ich denke, wir als Verbraucher brauchen dieses Gefühl, Dinge zufällig zu entdecken. Ein Beispiel: Am Wochenende lese ich immer eine physische Tageszeitung, gehe dafür allein in ein Café und genieße es. Ich kann sie fühlen und anfassen. Es ist etwas Echtes. Wenn ich die Seiten umblättere, stoße ich vielleicht zufällig auf einen Artikel, den ich in der App nie finden würde, weil sie mir basierend auf dem, was ich normalerweise lese, dieses Thema nicht vorschlagen würde.

Wird KI jemals in der Lage sein, uns überraschen zu können?

Wahrscheinlich. Aber sie überrascht sich nicht selbst, weil sie kalkuliert ist.

Vielen Dank für das Gespräch.
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