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Digitalisierung | Interview mit Barbara E. Kahn

Digitalisierung | Interview mit Barbara E. Kahn

„Wer sich im Handel nicht auf Kundenzufriedenheit konzentriert, wird bald den Anschluss verlieren.“

In ihrem Buch „The Shopping Revolution: How Successful Retailers Win Customers in an Era of Endless Disruption“ komprimiert die Marketingprofessorin Barbara E. Kahn ihre umfassenden Erkenntnisse über Erfolgsfaktoren im Einzelhandel nach sieben Jahren als Direktorin des J. H. Baker Retailing Center-Lehrstuhls an der Wharton School (Universität von Pennsylvania). Im Interview erläutert sie die Auswirkungen von Amazon auf den stationären Handel und technische Lösungen, um die Kundenzufriedenheit zu verbessern, und zeigt eine überraschend technologiefreie Methode zum Sammeln nützlicher Kundendaten.

Interview: Petrina Engelke. Fotos: Barbara E. Kahn

Frau Kahn, wenn man auf den Wandel in der Einzelhandelslandschaft schaut, dominiert ein Name: Amazon. Kein Wunder, dass Sie sich in Ihrem Buch „The Shopping Revolution“ oft auf dieses Unternehmen beziehen. Sehen Sie Amazon eher als Bedrohung oder als Inspiration für den Handel?

Ich halte oft Vorträge über mein Buch und am Ende frage ich das Publikum: Ist Amazon denn jetzt gut oder böse? Das geht meistens fifty-fifty aus. Alles hängt davon ab, ob man Kunde oder Konkurrent ist. Wer mit Amazon konkurriert oder von seiner Plattform abhängt, mag die Firma eher nicht, denn Amazon ist ein rücksichtsloser Konkurrent. Aber als Konsumenten lieben die Leute Amazon. Denn Amazon erfüllt die Erwartungen an Kundennutzen: Sie achten darauf, was Leute wollen, und das liefern sie ihnen dann auch.

Was macht Amazon im Umgang mit seinen Kunden richtig?

Sie denken aus Kundensicht. Und obwohl man meinen sollte, Einzelhandel ist der Umgang mit Kunden, hat der Handel sich bislang auf das Produkt und das operative Geschäft konzentriert. Bei der Frage nach einem guten Händler denkt man an einen guten Kaufmann, der weiß, wie man ein gutes Sortiment, eine gute Produktlinie entwickelt. Man denkt auch an Lieferketten und daran, wie man Kosten reduzieren und das Produkt zur rechten Zeit an den rechten Ort bringen kann. Amazon fragt stattdessen: Was will der Kunde? Dort haben sie Aspekte wie Verbraucherfreundlichkeit verstanden, weil sie das gesamte Kauferlebnis mit Kundenaugen betrachten. Deshalb sammeln sie jede Menge Daten und holen das Höchstmaß aus den Daten heraus, um dem Kunden ein speziell auf ihn zugeschnittenes Erlebnis zu bieten. Und das ist überraschender- und erschreckenderweise eine andere Art von Einzelhandel.

Ist es denn möglich, das Onlinekaufverhalten mit Angeboten zu verbinden, die man im Laden umsetzen kann?

Der Komfort des Onlineshoppings ist echt gut für Wiederholungskäufe oder Gebrauchsgegenstände – meine Glühlampe ist kaputt und ich brauche Ersatz. Aber Recherchefieber, Entdeckergeist, das Finden neuer Sachen macht online nicht so viel Spaß wie im Laden. Insbesondere in puncto Mode gefällt es den Leuten, vorher nicht zu wissen, womit sie nach Hause kommen werden. Mode dreht sich um Neues, Innovation, Spaß, sexy Sachen. Und ich finde nicht, dass all die Worte Attribute von Onlineshopping sind. Und solange ihre Erwartungen erfüllt oder sogar übertroffen werden, werden die Menschen meiner Ansicht nach loyal sein, obwohl es tonnenweise Alternativen da draußen gibt. Schließlich bedeutet die Möglichkeit zum anderswo Suchen gleichzeitig Zeitaufwand.

In Ihrem Buch lenken Sie den Blick nicht nur auf die Kundschaft, sondern Sie zeigen deren Einfluss auf Erfolg im Handel auch in einem einzigen Satz, nämlich: „Kunden wollen von jemandem, dem sie vertrauen, etwas kaufen, das sie wollen.“ Können Sie das ein wenig ausführen?

Dieser Satz ist die Grundlage des Zwei-mal-zwei-Rasters, auf dem mein Buch basiert, und er steht für die Spalten: Was wollen Kunden von einem Händler? Einfach ausgedrückt, wollen sie ein gutes Produkt zu einem reellen Preis. Und das ist nichts Neues. Händler bieten schon lange gutes Design, gute Technologie oder Mode, zudem auf diversen Preisniveaus, die der Heterogenität der Preisvorlieben Rechnung tragen. Amazon hat den Teil mit dem Vertrauen hinzugefügt. Jetzt muss ein Händler sich nicht mehr nur um das Produkt kümmern, sondern auch um alles, was der Kunde rund um das Produkt mitbekommt. Das heißt, man will dem Händler vertrauen können, dass er einem das gibt, was man braucht. Man will darauf vertrauen, dass er die Produktvorzüge nicht übertreibt, nicht zu viel dafür verlangt, einem nichts andreht, das nicht authentisch ist. Viele Komponenten der Beziehung zwischen Händler und Kunde gehen weit über das eigentliche Produkt oder die Marke hinaus.

Wo kann die Strategie eines Händlers ansetzen, um dieses Vertrauen zu gewinnen oder wiederzugewinnen?

Es gibt viele verschiedene Strategien, aber lassen Sie uns über zwei Extreme sprechen. Eines sehen Sie bei vielen Schwergewichten wie Amazon oder Walmart, ebenso wie Net-A-Porter, Farfetch oder den Kaufhäusern: Datensammeln auf Kundenebene, Treuemodelle aufbauen und dann die Daten über eine weltweite Ebene nutzen, um exakt das zu liefern, was Kunden wollen, meist zusammen mit einer Online-Offline-Omnichannel-Experience. Die genannten Treueprogramme erfassen nicht nur die Käufe selbst, sondern auch andere Aspekte des Kaufs: Durch Websites kennen sie das Suchverhalten ihrer Kunden; Technologien wie Apps und Beacons erfassen, wohin sie im Laden ghen, was sie in die Umkleide bringen, was sie kaufen und was nicht. Einen ganz anderen Ansatz sieht man in kleinen Läden, etwa beim Aufstieg der unabhängigen Buchläden, aber auch bei Ketten wie Lululemon: Sie schaffen ein ladengebundenes Gemeinschaftserlebnis, wo man eine wirklich persönliche Beziehung mit seinem Laden vor Ort hat. In gewissem Sinne ist das eine Rückkehr zum Handel aus sehr alten Zeiten.

Bisher haben wir meist über die Kundenperspektive gesprochen, aber nicht über verschiedene Arten von Kunden. Wie kann der Handel sich den Digital Natives nähern?

Studien zufolge sind Konsumenten der Generation Z keine Gegner des stationären Handels, sie haben bloß andere Erwartungen und Bedürfnisse. Sie probieren gern. Sie mögen menschliches Miteinander. Manchmal wollen sie etwas sofort haben. Manchmal benutzen sie Läden zur Unterhaltung. Zum Beispiel füllen diese ganzen Instagram-kompatiblen Erlebniswelten gerade die Läden. Ich weiß nicht, ob sich der Trend halten wird oder ob das irgendwann langweilt. Aber dahinter steht, dass man in Läden etwas machen kann, das Spaß macht und Leute anzieht. Und was Mode betrifft: So einfach es ist, etwas zu bestellen, wenn man sechs Größen bekommt, muss man alle anprobieren, dann verpacken, was man nicht will, das zurückschicken, und das ist ein ganz schöner Aufwand. Es ist einfacher, einfach in den Laden zu sprinten, schauen, ob es passt, und mit den neuen Klamotten herauszukommen. Und das gilt für Digital Natives genauso wie für ältere Konsumenten.

Wie kann Technologie in einem Laden die Kundenzufriedenheit erhöhen?

Nun, nehmen wir einmal den intelligenten Spiegel: Jedes Kleidungsstück ist mit RFID-Chip ausgestattet. Geht man in die Umkleidekabine, zeigt der Spiegel alles an, was man mitbringt, er kann weitere Farben anzeigen und empfehlen, was zu dem grünen Rock passt, den man ausgesucht hat. Passt die Größe nicht, kann man meist das Personal per Knopfdruck um eine andere Größe bitten. Aus Kundensicht heißt das also, diese Technologie beseitigt die Mühen, sich anziehen und wieder rausgehen zu müssen, und bringt Mehrwert durch Empfehlungen, die einem tatsächlich gefallen. Intelligente Spiegel sammeln zudem Daten darüber, was in die Umkleide kam, aber nicht gekauft wurde, und damit können Händler ihr Sortiment besser auf Kundenwünsche abstimmen.

Apropos Kosten oder Ärgernisse beim Einkaufen: Da denkt man schnell an lange Schlangen vor der Kasse. Wie kann Technologie dort die Beziehung zum Kunden verbessern?

Ich denke, selbst in einigen der kleinen Läden erwartet man mehr und mehr, dass ein Verkäufer ein iPad zieht und direkt abkassiert, nachdem man von ihm beraten wurde und kaufen will. Ein anderes Beispiel: Bezahlen mit einer App, die einen außerdem über Produkte informiert, die man sich im Laden anschaut. Ich kann mir vorstellen, nach dieser unmittelbaren Information und der Sofortzahlung süchtig zu werden, die solche Apps bieten. Und ich meine, ich bin keine Digital Native, ich bin viel älter, aber ich sehe, wie bequem das ist und welche endlosen Erlebnisse das bietet.

Andererseits bezweifle ich, dass irgendwer mit hundert Apps für alle möglichen Läden jonglieren will.

Stimmt, 700 Apps auf dem Telefon funktionieren nicht, deshalb wird sich eine App-Plattform oder Ähnliches entwickeln, die das zusammenführt. Das ist ja die Logik hinter Vertriebskanälen, denn, wenn jede Marke sich direkt an jeden einzelnen Endkunden wenden würde, wären das viel zu viele Verbindungen. Kanäle machen diese Verbindungen effizienter. Deshalb haben sich Vertriebskanäle im Handel ja überhaupt entwickelt.

Zurück zum Sammeln und Auswerten von Daten: Wie kann ein kleinerer Laden diese Strategie nutzen?

Erstens bin ich der Ansicht, kleinere Geschäfte brauchen eine Onlinepräsenz, denn mehr und mehr Menschen erwarten diesen Komfort. Selbst wenn es nur heißt, man kann auf der Website die Öffnungszeiten nachschauen. Zweitens denke ich, eine gute Datenquelle für diese Händler wäre die Entwicklung eines Treueprogramms, das die richtigen Informationen sammelt und diese dann wirksam verwendet. Und keine Sorge, wenn Sie die Technologie für so etwas nicht haben: Zara hat Kundendaten schon gesammelt, bevor es diese Technologie gab. Sie haben jeden Tag aufs Neue ihr Personal um Informationen darüber gebeten, was es im Laden beobachten konnte: Wer kommt in den Laden, was tragen die Leute, was probieren sie an? Was kaufen sie? Worum bitten sie? Das kann auch ein kleiner Laden tun. Man braucht nur ein System, das diese Daten laufend erfasst, selbst wenn sie mit der Hand auf Karteikarten gekritzelt sind. Aber wenn man diese Daten im Blick hat, kann man anfangen, Sortimente und Angebote zu entwickeln, die den Kunden mehr von dem bieten, was sie wollen.

Was bedeutet ein sehr guter Service im heutigen Modehandel?

So sehr ich auch eine Verfechterin des kundenzentrierten Geschäfts bin, in der Mode zählt unterm Strich das Produkt. Mode muss stets mit verflixt coolen Produkten, neuem Design, neuen Styles, coolem Material aufwarten und außerdem Heterogenität verstehen. Manche Leute lieben die neuesten Trends, andere wollen bequeme Kleidung oder genau das, was sie immer kaufen. Schließlich gibt es Leute, die immer schwarze Hosen und schwarze Rollkragenpullover tragen! Da muss man ein Segment finden, in dem man Mehrwert liefern kann. Dann muss man sich auf die Kundenzufriedenheit konzentrieren. Wer das nicht kapiert, wird bald den Anschluss verlieren. Entscheidend ist ein kundenzentrierter Ansatz, aber ich denke, man braucht außerdem ein gutes Produkt zu einem guten Preis. Das verschwindet ja nicht, bloß weil zusätzliche Ansprüche an den Händler und Hersteller gestellt werden.

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