Now Reading
Digitalisierung | Von der Vision zur Wirklichkeit

Digitalisierung | Von der Vision zur Wirklichkeit

Der digitale Showroom war erst der Anfang – was die digitale Offensive starker Marken und innovativer Softwarehersteller möglich gemacht hat, hat weitreichende Konsequenzen: Kosten sparen, Prozesse begradigen, effizienter und konsistenter kommunizieren.

Wenn aus vielen einzelnen Schritten endlich eine logische, ineinandergreifende Abfolge entsteht, sind wir am Ziel. Die Hürden, die bis dahin noch zu nehmen sind, scheinen nur mehr jenen unüberwindbar, die der Digitalisierung am liebsten generell jede Erfolgsaussicht absprechen würden. Nicht mal mehr ob und wann stehen in Frage – es steht nur noch das Tempo, in dem sich die Lösungen bei allen Marken durchsetzen, offen. Freilich: Der Etablierung wird erst die Optimierung, später die Konzentration folgen. style in progress stellt verschiedene Player vor, die aktuell ihre Karten ins Spiel werfen. Das Ziel ist bei allen ganz klar: Das leistungsstärkste Betriebssystem des Modehandels zu werden.

Text: Petrina Engelke, Martina Müllner-Seybold. Fotos: Gesprächspartner

„Die Vernetzung der Industrie birgt Chancen“

Colect.io will sich nicht nur als Order- und Digital-Showrooming-Tool verstanden wissen. Die niederländischen Softwareentwickler, die gerade eine Millionenbeteiligung bekommen haben, setzen auf die Vernetzung der Branche. Über ERP und Schnittstellen können die Daten aus Colect mit allen gängigen Onlineshops, Marktplätzen und Warenwirtschaftssystemen verbunden werden. style in progress im Gespräch mit Executive Director Arthur Hoffman.

Interview: Martina Müllner-Seybold. Fotos: Colect

Das Rennen um den erfolgreichsten B2B-Marktplatz ist eröffnet: Was braucht es, um Marken zu überzeugen, mit Colect zu arbeiten? Was sind die wichtigsten USPs Ihrer Lösung?

Uns ist wichtig, dass wir strategische Partnerschaften mit unseren Kunden schließen. Wir wollen ihnen nicht einfach nur eine Software verkaufen, sondern helfen, die täglichen Herausforderungen, vor denen sie stehen, zu meistern. Gleichzeitig wollen wir gemeinsam den Fokus darauf setzen, dass sie Voraussetzungen für langfristigen Erfolg schaffen und sie in diesem Prozess anleiten. Als unsere wichtigsten USPs sehen wir: Unsere Modeexpertise – Colect wurde speziell für die Mode entwickelt. Unsere Komplettlösung – Colect kann mit mehr als 45 ERP und Warenmanagementsoftwares verbunden werden. Unsere Schnittstellenfähigkeit – unsere Mission ist, einen effizienten, seamless Workflow E-Commerce-Spezialisten, Marktplätzen und Warenwirtschaftssystemen am PoS aufzubauen. Unsere Flexibilität und Innovation – wir verbessern unsere Plattform kontinuierlich.

Last but not least – wir sind Europäer und seit zehn Jahren mit dieser Lösung am Markt. Wir haben mehr als 300 internationale Mode-, Sport-, Schuh- und Accessoiremarken als Kunden. Unsere Entwicklerteams tauschen sich mit Kunden aus, wir haben lokale Supportcenter und die Kunden können sich an Servicepersonal wenden, das ihre Sprache spricht und auch gerne zu den Kunden kommt.

Die Modebranche mit ihren Orderblöcken hat sich lange gegen die Digitalisierung gewehrt. Welche Effekte erwarten Sie durch eine vollstufige Digitalisierung des Großhandelsgeschäfts?

Die Digitalisierung bietet unserer Branche genau wie anderen Industrien – denken Sie nur an die Reisebranche, wo es ja praktisch keine gedruckten Kataloge mehr gibt – die Möglichkeit, ihre Prozesse glattzuziehen und die Kosten von Musterkollektionen zu reduzieren. Gedrucktes kann vermieden werden, genau wie es nicht mehr zwingend ist, sich für jeden Ordertermin von Angesicht zu Angesicht zu treffen. Das Einkaufserlebnis mit virtuellen Lookbooks ist besser, weil man Videos und Multimedia-Content einbinden kann. Die Macht der Daten – wir kombinieren historische, zukünftige und Benchmarks – hilft. Damit kann man fundiert analysierte, individuelle Orderempfehlungen für jeden Händler abgeben.

Die Forderung, die Mode müsse näher mit ihren Produktionsterminen an die Auslieferungstermine heran, gibt es schon lange. Wie helfen digitale Lösungen wie Colect, eine kürzere Time-to-Market zu realisieren?

Unsere Lösung bietet die Möglichkeit, die Kollektion schon in einem sehr viel früheren Stadium zu zeigen und mit dem Feedback die finale Kollektion einem Finetuning zu unterziehen. Fehlende Farben können sofort hinzugefügt und bestellt werden und Produkte mit wenig Nachfrage können dank der Echtzeitorderdaten viel früher storniert werden. Das alles ist unkompliziert und kann von überall aus erledigt werden, der Bedarf an echten Samples reduziert sich und der ganze Prozess wird beschleunigt. Nach der Auslieferung gibt die Sell-Trough-Information wichtige Aufschlüsse. Stark nachgefragte Teile können noch einmal in Auftrag gegeben werden, die wenig nachgefragten Teile reduziert oder getauscht werden.

„Daten sind dazu da, Entscheidungen Substanz zu geben, und nicht, sie zu ersetzen.“

Joor digitalisiert den Bestellvorgang für Marken wie Chloé, Sacai, Liebeskind und Händler wie Apropos und Zalando. Seit Kristin Savilia die Firma leitet, hat sich Joor auf Softwarelösungen konzentriert, die vorgelagerte Prozesse transparent machen – und expandiert in Europa. style in progress im Gespräch mit Kristin Savilia, der Chefin von Joor.

Interview: Petrina Engelke. Fotos: Joor

Kristin, wie hat sich der Großhandel seit dem Beginn Ihrer Karriere gewandelt?

Ehe sie an der Spitze von Joor stand, arbeitete Kristin Savilia für The Knot, wo sie die Hochzeitsplanung digitalisierte – ein praktischer Hintergrund, wenn man sich der Digitalisierung eines Geschäfts verschrieben hat, das heute noch oft mit Bestellzetteln aus Papier betrieben wird: Modegroßhandel.

Im Prinzip ist das Verfahren gleich geblieben. Als man mir die Leitung von Joor anbot, erfuhr ich, dass die Leute ihre Bestellungen immer noch so machten, wie ich es von 1995 kannte: mit Excel-Tabellen und Durchschlag. Die einzige Änderung vor Joor kam mit dem iPhone: Einkäufer machten bei Shows und im Showroom Fotos, aber die waren mit nichts verbunden. Während also das komplette Front+End, die verbraucherzugewandte Seite, hundertprozentig digital geworden ist, benutzen die Leute im Back-End, im Großhandel, immer noch Stift, Zettel und Kohlepapier. An diesem Knackpunkt braucht die Branche dringend eine Digitalisierung.

Würden Sie sagen, die Gattung ‚traditioneller Einkäufer‘ ist vom Aussterben bedroht?

Oh, auf gar keinen Fall! Im Kern bin ich Kauffrau, ich habe als Einkäuferin bei Macy’s angefangen. Bei Joor versuchen wir bloß, deren Fokus auf die kreative Seite des Einkaufs zu lenken, indem wir ihnen die Logistik abnehmen. Abgesehen von Nutzerfreundlichkeit und Kostenersparnis kann man so Trends erkennen und sich auf Termine vorbereiten und Upstream-Transparenz verbessert Entscheidungen. Dennoch glauben wir fest daran, dass Daten dazu da sind, Entscheidungen Substanz zu geben, und nicht, sie zu ersetzen. Mode wird nicht von der Vergangenheit vorhergesagt. Die kann ihr zugrunde liegen, aber für die Prognose braucht man immer noch den Blick des Einkäufers.

Ein Thema derzeit ist die Frage, wie sich Direct-to-consumer-Marken auf den Handel auswirken. Warum glauben Sie, dass DTC den Zwischenhändler nicht ausschalten werden?

Erstens ist der Großhandel das größte Geschäft, das es gibt. Zweitens gibt es kein besseres Marketing für eine Marke, als sich mit einem Stück stationären Handel zu verbinden. Selbst Amazon macht Läden auf und Hudson Yards, die neue Großfläche in New York, hat 18 Läden, die von DTC-Marken aufgebaut wurden. Viele dieser Marken verkaufen zusätzlich an Händler wie Neiman Marcus, um mehr Konsumenten zu erreichen. Niemand glaubt, der Großhandel verschwindet. Ich glaube, er funktioniert jetzt nur anders.

Was wäre denn ein Beispiel für diese Veränderung?

Durch den Omnichannel-Onlinehandel beginnen Modechefs viel früher, Teile zu stylen. Sie greifen Trends frühzeitig heraus und stellen Outfits zusammen, damit das alles fast sofort live gehen kann, wenn sie vom Markt zurückkehren. Mit Tools wie Joor können sie auch ihre Einkäufer am Markt beobachten, selbst wenn sie selbst nicht mit nach Paris reisen.

Apropos Paris: Worauf konzentrieren Sie sich gerade in Europa?

In Europa haben wir in Paris, London und Mailand begonnen, und vor etwa einem Jahr wollten wir dann nach Deutschland. Der Bereich D-A-CH ist jetzt unser Wachstumsfokus, wir arbeiten auf Hochtouren daran, dort unsere Markenliste zu verlängern. Natürlich sprechen wir auch mit Händlern. Wir hoffen, uns auch dort einen Signature Retailer als Aushängeschild zu sichern.

jooraccess.com

„Das Saisondenken ist überholt“

Mobimedia nennt sich eine Plattformlösung, die so viel mehr als ein digitaler Showroom und Ordertool ist: Mobimedia möchte antreten, den gesamten Orderprozess zu vereinfachen – von der Kollektionsentwicklung bis zur Contentsteuerung.

Wer die Prozesse der Modeindustrie kennen und abbilden möchte, braucht Geduld, sich viele individuelle Lösungen anzusehen. Jede Marke hat im Orderprozess ihre eigenen Mittel und Wege entwickelt, mal noch Zettel und Stift, mal Digital Showroom. Hannes Rambold, CEO von der Mobimedia AG, ist angetreten, das zu ändern. Mit der Software Quintet24 geht im September 2019 eine Lösung an den Start, die nicht bei der Order und dem virtuellen Showroom endet. „Wir erleben gerade einen gewaltigen Umbruch in dem gesamten Prozess der Order. Die Vororderbudgets werden um zehn bis 20 Prozent, teilweise sogar 30 Prozent reduziert, um im saisonalen Verlauf mehr Spielraum zu gewinnen.“ Auf den verlorenen Vororderanteil reagieren alle Firmen – willkommen in der Branche der Individualisten – mit stark diversifizierten Konzepten von Pre-Kollektionen, schnell getakteten Lieferterminen, NOS, Holidayprogrammen, Flashkollektionen oder Drops. Eine Entwicklung, die den Einsatz einer Softwarelösung wie Quintet24 rentabel macht, denn: „Wie oft soll der Kunde in den Showroom kommen?“, fragt sich nicht nur Hannes Rambold.

Intuitiv und intelligent

Die Order auf Quintet24 ist nicht nur intuitiv, sie entspricht auch dem Einkaufsverhalten einer neuen Generation von Einkäufern. „Es kommt eine Generation von Einkäufern, Digital Natives durch und durch.“ Vor allem: Sie kaufen ja vielfach für Online ein. Da ist ein Offlineshowroom mit Offlineorder nicht nur nicht mehr zeitgemäß, sondern zunehmend ein Störfaktor. „Schließlich ist die Anschlussfrage an die Order: Wann und wie wird der Content zu diesem Liefertermin angeliefert?“, berichtet Hannes Rambold. „Unser System soll nicht den Face-to-Face Kontakt zwischen Marke oder Agent und Buying ersetzen. Es soll für die strategische und kreative Seite des Business Zeit schaffen. Wer sich mit Orderdurchschlägen und Einteilungen beschäftigen muss, hat dafür keinen Kopf.“

Doch die Einkäufer sind längst nicht die einzigen, die vom vereinfachten Prozess profitieren. Marken helfen die Erkenntnisse aus der Anwendung der Plattform genauso. Die Kollektionsentwicklung kann kontinuierlich geplant und im Auge behalten werden, Budgets überwacht und Erkenntnisse generiert werden. Außerdem, so ist Hannes Rambold überzeugt, muss sich die Industrie für viel kürzere Time-to-Market rüsten. „Je agiler die Mode werden kann, je kurzfristiger sie auf Trends und wirtschaftliche Entwicklungen reagieren kann, umso geringer die Fehlplanungsmengen. Dass wir so viel Überhang auf dem Markt haben, ist einem alten System geschuldet. Mit einem digitalisierten Prozess ist dieses Problem viel besser in den Griff zu bekommen.“ Am Ende gehe es darum, die Zusammenarbeit mit dem Handel zu stärken und die Marke im beiderseitigen Interesse so sauber wie möglich zu halten. „Wenn Daten und Prozessoptimierung dazu beitragen, dass wir weniger Marge verlieren, haben wir alles richtig gemacht.“

View Comments (0)

Leave a Reply

Scroll To Top