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Devin Gilmartin, The Canvas | „Die Antwort für dieses Problem heißt Dezentralisierung“

Devin Gilmartin, The Canvas | „Die Antwort für dieses Problem heißt Dezentralisierung“

Die Vereinten Nationen präsentieren ihre 17 Nachhaltigkeitsziele (SDG) als bunte Piktogramme. Das hat Devin Gilmartin dazu inspiriert, zusammen mit Mitschülerin Tegan Maxey das Modelabel Querencia Studio zu gründen.

Während des Studiums in New York erweiterten sie ihr Geschäft zu einem nomadischen Ladenkonzept, das bis hin zu den Piktogrammen eng mit den SDG verbunden ist. Bei The Canvas kommen nur kleine Marken unter, die nachweisen können, wie sie einzelne SDG angehen, und der Laden informiert Kunden dann entsprechend über die Waren. Im Interview spricht der inzwischen 24-jährige Devin über die Macht der Dezentralisierung und des stationären Handels, über seine Alternative zu dem Versuch, langfristig die Generation Z zu binden, und darüber, wie er zum Chef seines Professors wurde.

Interview: Petrina Engelke. Fotos: The Canvas, Dr. Cameron Smith

Devin, warum glaubst du, kleine Marken können gemeinsam mehr erreichen als große Konzerne?

Zuallererst einmal erreichen große Konzerne ja gar nicht viel. Genau genommen bringen sie mehr Zerstörung als Gutes, und sie haben ein System erschaffen, in dem Einzelne kaum noch verantwortlich gemacht werden können. Profitgier gehört zur Struktur, die Anreize sind nicht auf einen gesunden Planeten und gesunde Menschen ausgerichtet. Deshalb müssen wir ändern, was wir als Erfolg betrachten. Und ich glaube, das passiert, wenn es einen klaren Weg zur finanziellen Stabilität für unabhängige Kreative gibt. Ein solcher Weg ist der stationäre Handel, glaube ich. Zweitens haben große Marken Lieferketten und Systeme aufgebaut, die schwer zu verändern sind. Selbst wer als Führungskraft zu Zara und H&M geht, wird es schwer haben, umfassende Veränderungen umzusetzen. Es ist viel einfacher, so etwas neu aufzubauen. Und genau das tun kleine Marken: Sie haben neue Ideen, sie haben eine lokale Lieferkette. Wenn wir diese Art System mit ganz vielen verschiedenen Ausführungen etablieren, damit die Leute einkleiden und die Modebranche ernähren, dann ist das viel besser als diese einbetonierte Lieferkette, die überholt und untragbar ist, sowohl aus Umweltsicht als auch in puncto Langlebigkeit. Wir steuern auf Rohstoffknappheit zu, irgendwann kracht es. Und ich glaube, die Antwort auf dieses Problem heißt Dezentralisierung.

Wie setzt du diese Idee um?

Wenn sich eine Marke bei The Canvas bewirbt, muss sie detailliert darlegen, wie sie mindestens eins der UN-Nachhaltigkeitsziele angeht, mit Fotos, Zertifikaten und so weiter, damit wir diese Geschichte dann mit Kunden im Laden teilen können. Auf unseren Etiketten dort sind die SDG aufgedruckt, mit kleinen Kästchen daneben. Da sind dann die Ziele abgehakt, mit denen sich die jeweilige Marke befasst. In unserem neuesten Laden führen wir QR-Codes auf den Etiketten ein, dazu arbeiten wir mit der Firma Rootip. Wer den QR-Code scannt, sieht die komplette Lieferkette der Marke und die Menschen, die dazugehören. Man kann ihnen sogar direkt Geld zukommen lassen, quasi Trinkgeld. Das geht an diese Person, nicht an die Marke, nicht an uns. Man braucht das Kleidungsstück dazu nicht einmal zu kaufen. Ich finde, das geht über Transparenz hinaus, das verbindet die Welt auf neue Art.

Wie hat sich The Canvas verändert, gemessen an dem, was ihr zuerst erreichen wolltet?

The Canvas hat seine Leidenschaft für die Nachhaltigkeitsziele behalten, aber wir gehen sie jetzt etwas anders an. Der Handel hat sich ja generell stark verändert. Zu Beginn hatten wir intuitiv erfasst, dass ein Wandel bevorsteht. Unsere Kalkulation war: Es gibt viele, viele kleine Marken und viele, viele leere Ladenlokale in der Welt. Und ich glaube, kleine Marken verkörpern eine Dezentralisierung der Macht.

Was heißt Dezentralisierung in der Praxis?

Wenn du etwas verkaufst, egal was, und dabei die komplette Lieferkette des Produkts kontrollierst, die Leute kennst, die an der Herstellung beteiligt sind, dann hast du die Macht über dein Leben. Du hast Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Mode ist nur ein Beispiel für diese Entwicklung, finde ich. Andere Beispiele für diese Dezentralisierung sind die Finanzbranche und NFTs, Kryptowährungen und so weiter. Ich glaube, das wird ein großer Wandel und eine große Chance für die Gesellschaft. Und wir wollen dafür sorgen, dass unabhängige Kreative in der Welt davon profitieren können und mehr Macht bekommen. Dafür sind wir ein Vehikel.

Statt eines klassischen Modedesign war euer erstes NFT ein Astronautenanzug, gezeichnet von einem Archäologen mit Leidenschaft für die Raumfahrt. Wie kam dazu?

Wenn wir von unabhängigen Kreativen sprechen, meinen wir nicht nur Modemarken, sondern Leute, die zeigen, was mit unabhängiger kreativer Arbeit alles möglich ist, und einen Fahrplan vorlegen, wie das geht. Und Cameron Smith, der Archäologe, der übrigens auch Anthropologe ist, hat sein ganzes Leben der Erforschung von handgefertigten Raumanzügen gewidmet, die wirklich funktionieren. Jetzt ist ja ein verbreiteter Kommentar zu NFT, dass sie kaum Anwendungsmöglichkeiten bieten. Du kannst zeigen, dass du ein JPG in deiner Wallet hast. Und sonst? Cameron hat dieses Talent dafür, Raumanzüge von Hand zu machen, und er hat Zutritt zu Flügen. Also haben wir ein NFT gemacht, bei dem du mit dem Kauf auch einen Maß-Astronautenanzug bekommst und einen Höhenflug.

Und was habt ihr davon gehabt?

Dieses Projekt hat interessante Reaktionen hervorgerufen, und es hat uns in die Krypto-Gemeinschaft eingeführt, eine sehr starke Gemeinschaft – wie in der ethischen Mode. Die beiden sollten sich meiner Ansicht nach näher kennen lernen. Dieser Dogmatismus rund um Kryptowährungen, wie sehr die Leute dafür brennen: Das ist doch genau dasselbe wie bei der ethischen Mode. Wenn diese beiden Gruppen sich zusammentun und einander verstärken, erledigt sich der Umweltaspekt von selbst. Die Leute werden Lösungen für diese Probleme finden. Und das wird ein neues Modesystem und ein neues Finanzsystem ermöglichen, die sich dann verflechten und gemeinsam wachsen.

Wo du nun diese beiden Gruppen beobachtest: Was haben sie deiner Ansicht nach gemeinsam, von dem sie noch nicht ahnen?

Ich würde sagen, dass sie Leidenschaft gemeinsam haben, wissen sie definitiv. Sie verstehen aber vielleicht noch nicht so recht, dass sie beide Zugriff auf die größten Gruppen der Welt haben. Jeder trägt Kleidung und jeder gibt in irgendeiner Form Geld aus. Beide sind quasi Kulturinstanzen. Das müssen sie meiner Ansicht nach noch erkennen. Ich glaube, sie beide tragen Verantwortung, Chancen und Macht in sich.

Apropos Macht: Dieses Jahr hast du deinen ehemaligen Professor angestellt. Wie ist das, wenn du der Chef deines früheren Lehrers wirst?

Harold Brooks war ein Professor von mir an der NYU. Dort hat er ein tolles Seminar über das Modebusiness gegeben, und kurz danach kam er als Berater zu uns. Schließlich haben wir ihm eine feste Stelle als CEO of Retail angeboten, die er annahm. Sehr bald darauf hat Harold dann große Veränderungen eingeführt. Ich meine, er hat echt Ahnung von Handel und Mode, er versteht Dinge, die man erst nach Jahrzehnten durchschaut. Und das macht er fast im Schlaf.

Auf der anderen Seite, nämlich auf deiner: Welchen Vorteil hat es, genau diese Erfahrung nicht zu haben?

Genau darüber sprechen wir jeden Tag: Wie kriegen wir raus, was in der Einzelhandelsbranche richtig ist und was hinterfragt werden sollte? Der Handel hat gewisse Standards und Prozesse, die mir sinnvoll erscheinen, aber manche sollten überdacht werden. Deshalb überprüfen Harold und ich die alle.

Gib doch mal ein Beispiel für so einen Einzelhandelsstandard, den ihr euch vorknöpft!

Wir überdenken, wie Läden sich präsentieren und Kunden mit Läden interagieren. Harold war früher Manager bei Fossil-Uhren und den Duty-Free-Läden in Flughäfen und hat entsprechend Erfahrung, was in solchem Umfeld funktioniert. Und dann kommen wir mit Ideen, was man besser machen könnte: zum Beispiel QR-Codes. Oder wir arrangieren eine Kleiderstange, einen Ladenbereich oder eine Präsentation so, dass sie dem Kunden vertraut erscheint, führen aber gleichzeitig neue Elemente des Entdeckens, der Neugier, des Designs ein. Und bald eröffnen wir im Oculus, einem Einkaufszentrum am World Trade Center. Das ist ein gutes Beispiel, wie Alt und Neu zusammenkommen, denn es holt ein einzigartiges Ladenkonzept in das eher nicht so neue Konzept, Läden in einem Einkaufszentrum aufzureihen. All diese Dinge sehen wir als Chance, scharf darüber nachzudenken, was uns von anderen unterscheidet.

Du gehörst ja der Generation Z an. Aus deiner Erfahrung als Geschäftsmann und als Verbraucher: Was erscheint dir zentral, um die Aufmerksamkeit deiner Altersgenossen zu erhaschen und zu halten?

Ich weiß gar nicht, ob es noch das Ziel ist, ihre Aufmerksamkeit zu halten. Ich glaube, es geht eher darum, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen und etwas Einzigartiges zu liefern, das sie dann mitnehmen aus ihrer Zeit mit dir oder dem Laden oder dem Erlebnis, das du geschaffen hast. Egal wie kurz diese Zeit war, diese Erfahrung sollte so tiefgreifend sein, dass sie eine Verhaltensänderung bewirkt. Zum Beispiel findest du bei The Canvas diese Etiketten, die dir Einblick über den Umgang einer Marke mit ihrer Lieferkette geben, die Namen der Menschen dahinter, woher sie kommen. Wenn du dann das nächste Mal zu H&M, Zara, Top Shop oder Forever 21 gehst, wirst du intuitiv eine andere Einstellung zu deren Etikett haben, auf dem einfach nur sieben Dollar steht und das dir nichts über die Hintergründe verrät. Dann findet ein subtiler Wandel in deiner Vorstellung dessen statt, wie dir ein Produkt präsentiert werden soll. Und wenn das in großem Maße und immer wieder überall auf der Welt passiert, werden die Leute mehr Fragen stellen: Wer hat meine Kleider gemacht? Wo? Und wie? Diese Fragen wollen wir in den Leuten wecken.

Du stellst nicht nur das Ziel der langfristigen Kundenbindung in Frage, Kurzlebigkeit scheinst du auch in Bezug auf Ladenstandorte freudig anzunehmen. Ist eure nomadische Präsenz aus Notwendigkeit entstanden oder Teil eures Geschäftsplans?

Beides. Shopify hat dafür gesorgt, dass jede Marke der Welt einen Onlinestore eröffnen kann. Und der ändert sich ständig. Man kann die Homepage ändern, das Design, die Farben. Wir wollen es so einfach wie einen Onlinestore machen, einen Laden zu eröffnen. Wir wollen es Marken ermöglichen, zusammen mit anderen, Teil eines Ladens zu sein. Dadurch entsteht Flexibilität zwischen uns und den Marken, aber auch die Möglichkeit, von Ort zu Ort zu springen, denn wir vereinbaren entsprechende Gewinnbeteiligungsverträge mit den Vermietern. Bei denen können wir eine Weile verkaufen, aber wir können auch schnell raus und in ein neues Ladenlokal einziehen. Ich halte das für sehr attraktiv für Marken mit Onlinepräsenz. Sie können so ein unterschiedliches Publikum einfangen. Wenn wir als The Canvas unsere Aufgabe gut machen und die Marken so präsentieren, dass sie beim Publikum an einem Ort ankommen, dann ist die Chance groß, dass es uns anderswohin folgt. Und da entdecken uns dann doch mehr Leute. Genau das haben wir erlebt, als wir von der Upper East Side in Manhattan nach Williamsburg in Brooklyn gingen, zurück zur Bowery, kurz nach Antwerpen, jetzt zum World Trade Center. Am Anfang war das ein Experiment, aber inzwischen sind wir von der Langlebigkeit dieses Geschäftsmodells überzeugt.

https://thecanvas.nyc/

Diese Zeichnung des Gründers von Pacific Space Flight-Cameron Smith ist die Grundlage für das erste NFT von The Canvas, das im Februar in Mailand ausgegeben wurde. Zusätzlich zum typischen JPG gehört dazu ein von Smith gefertigter Astronautenanzug und die Chance auf einen Höhenflug.

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