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20 Jahre Premium Empathie als Superpower

20 Jahre Premium Empathie als Superpower

Anita Tillmann Stephan Huber
Je nach Betrachtungswinkel sind 20 Jahre ein Wimpernschlag oder eine Ära. Wenn Anita Tillmann auf zwei Jahrzehnte Premium zurückblickt, trifft wohl beides zu. Noch lieber blickt die erfolgreiche Unternehmerin und Mutter von Zwillingsmädchen aber in die Zukunft. Und wie immer war es eine große Freude, das gemeinsam zu tun. Ein Gespräch über die Rolle der Messen in einem völlig neuen Zyklus, über die Macht der Konsumenten und über Empathie als Superpower.

Von Stephan Huber. Illustration: Tibo Exenberger@Caroline Seidler

20 Jahre Premium … what a journey! Da müssen doch große Gefühle aufkommen? Welche?

Anita Tillmann, Managing Director Premium Exhibitions: Zunächst einmal fast so etwas wie Erstaunen. Wie … 20 Jahre??? Denn es fühlt sich nicht an wie zwei Jahrzehnte. Auch nicht beim Blick in den Spiegel (lacht). Gleichzeitig war diese Zeit so dicht gepackt und atemberaubend, es ist so viel passiert, dass ich wiederum kaum glauben kann, dass das alles in 20 Jahre hineinpasst. Ich durfte so viel erleben. So viel gestalten. So viel lernen. So viele großartige Menschen kennen lernen. Vielleicht ist dieses Jubiläum der richtige Zeitpunkt, dafür dankbar zu sein.

Stephan Huber: Ja, die vielen, vielen Menschen, die mich und meinen Weg geprägt und bereichert haben, empfinde ich ebenfalls als großes Privileg. Und ich bleibe bei meiner unverrückbaren Überzeugung, dass unsere Branche besonders viele spannende, witzige, kluge und empathische Menschen zu bieten hat. Würdest du eigentlich alles noch einmal genau so machen? Ist ja bekanntlich ein beliebter Sager anlässlich von Jubiläen.

Auch mit dem Wissen und den Erfahrungen von heute würde ich diesen Weg weitgehend noch einmal so gehen. Don’t get me wrong, selbstverständlich habe ich auch Fehler gemacht. Aber das gehört zur Entwicklung, als Mensch wie als Unternehmerin. Und Unternehmerin zu sein, diesen Weg würde ich immer wieder wählen. Entrepreneurship und der Mut auch riskante Entscheidungen zu treffen, liegen mir einfach im Blut. Und vieles war schon ein wilder Ritt. Als wir uns damals für den Kauf der Location am Berliner Gleisdreieck wirklich hoch verschuldet haben, hat mein Papa gesagt: „Wenn’s schiefgeht packst du deine Familie und ziehst wieder zu uns …“

War das all in?

Sowas von! Aber letztlich eben ein für unsere Entwicklung als Unternehmen richtungsweisender Schritt! Weil wir dadurch viel selbstbestimmter geworden sind. Dass es in diesen 20 Jahren nie Stillstand gegeben hat, ist wahrscheinlich auch der Grund, warum es nach wie vor so viel Spaß macht. Ich würde beispielsweise auch immer wieder neue Formate anpacken und ausprobieren. Mit dem Thema Sustainability sind wir 2006 mit der Green Area an den Start gegangen. FashionTech war und ist ein tolles Content Format. Mit The Ground haben wir ein Format gelauncht, in dem sich die Grenzen zwischen D2C und B2B auflösen und völlig neue Ideen des Storytelling ausprobiert werden können. Oder die Seek, die sich zu so einem Schmuckstück entwickelt hat. Sie steht auch so prototypisch für unsere Unternehmenskultur. Denn sie ist aus dem Team heraus entstanden. Weil Marie-Luise Patzelt und Maren Wiebus dieses Thema sehr früh antizipiert haben und das einfach machen wollten. Sie waren so fest überzeugt. Und Jörg und ich haben ihnen vertraut und die beiden machen lassen. Wie entscheidend ein tolles Team für den Erfolg eines Unternehmens ist, kann man gar nicht oft genug betonen. Und wir haben ein RICHTIG tolles Team!

Ja, Team ist Key! Das gilt auch für style in progress. In 20 Jahren gibt es natürlich jede Menge absolute Highlights. Welche kommen dir ganz spontan in den Sinn?

Da eine Auswahl zu treffen, ist echt eine Challenge. Die Zusammenarbeit mit Parley for the Oceans und Pharell Williams 2013 zählt aber ganz sicher dazu. Weil das auf so globaler Ebene aufgestellt war. Die erste deutsche Fashion Week, damals mit Klaus Wowereit am Brandenburger Tor, war auch sehr special. Virgil Abloh war bei uns als Designer und DJ, als ihn wirklich nur Insider kannten. Oder David Fischer, der auf unserer ersten FashionTech High­snobiety vorgestellt hat. Und José Neves war Aussteller auf der Premium, bevor er dann mit Farfetch zu einem globalen Machtfaktor geworden ist. Wir waren immer auch eine sehr lebendige und diverse Plattform für Talent und Kreativität in the making.

Zumindest eine ganz besondere Anekdote aus 25 Jahren style in progress muss ich an dieser Stelle ebenfalls beisteuern. Tatsächlich noch im letzten Jahrtausend habe ich die Coverstory „The Longview“, also das visionäre Interview mit einer herausragenden Persönlichkeit eigentlich vor allem deshalb erfunden, weil ich Massimo Osti und François Girbaud kennen lernen wollte. Osti habe ich in Bologna besucht und hatte die große Ehre, von ihm persönlich durch sein zu recht legendäres Archiv geführt zu werden. Und mit Girbaud bin ich, das Aufnahmegerät in der Hand, durchs nächtliche Paris spaziert, wo er während des Interviews alle möglichen Buddies getroffen hat und zwischendurch auch mal unauffindbar gewesen ist. Ein echtes Highlight aus jüngeren Tagen habe ich dir zu verdanken. „Ich war in den Hügeln von Florenz beim Prinzen von Burma auf einer organic Cannabis-Farm!“ Die inhaltlich völlig korrekte Zusammenfassung einer absolut außergewöhnlichen Einladung. Aber ich wollte mit dir ja vor allem auch einen Blick in die Zukunft werfen. „It’s wide open…“, wie wir wissen.

Auf jeden Fall für alle, die auf diese Zukunft auch Lust haben und die bereit sind, sich den Herausforderungen zu stellen, die eine umfassende Zeitenwende mit sich bringt. Denn genau das erleben wir gerade. Wir stehen am Beginn eines neuen Zyklus, der, noch dazu in atemberaubender Geschwindigkeit, vieles, was wir seit Jahren oder Jahrzehnten gewohnt sind, neu definieren wird. Nun ist beständiger Wandel etwas, was uns gerade in der Modebranche immer begleitet hat. Aber die aktuelle Dimension ist eine völlig andere.

Kannst du diesen neuen Zyklus erfassbar machen?

Im November letzten Jahres ist Albert Eickhoff verstorben. Zweifellos die überragende Persönlichkeit eines Zyklus, der sich zu Ende neigte als wir 2002 in einer abgerockten, sehr berlinerischen U-Bahn-Station mit der ersten Premium an den Start gegangen sind. Die Macht und Deutungshoheit in der Mode waren über lange Jahre beim Handel gelegen. Eickhoff hat das verkörpert, wie kein anderer. Sein Urteil hat über Karrieren entschieden, Trends gesetzt, Stile geprägt. Dann haben wir den Shift dieser Macht zu den Marken gesehen. Angetrieben von Globalisierung und Digitalisierung, was völlig neue, kommunikative und wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnet hat. Aber dann hat Social Media noch einmal alles gedreht. Und jetzt sind wir inmitten einer Transformation, die einen völlig neuen Zyklus einleitet. Das Zeitalter des Konsumenten. Diese Konsumenten brauchen die Marken nicht mehr wirklich. Nicht im Sinne der blinden Ergebenheit. Aber die Marken brauchen umgekehrt die Konsumenten. Ihren Input, ihren Einfluss innerhalb ihrer Communitys. Nun ist Customer Centricity in der Theorie nicht neu. Aber heute ist es entscheidend, das auch in der Praxis wirklich zu leben.

Die Neudefinition der Rolle des Konsumenten, vom passiven Käufer hin zum auch inhaltlich prägenden Centerpiece einer völlig veränderten Supply Chain, ist tatsächlich der entscheidende Faktor für die aktuelle Transformation. Daten- und Wissensströme fließen heute in alle Richtungen.

Jeder beeinflusst jeden. Alles beeinflusst alles. War der Markt früher linear, ist er heute ein Kreis. Das zwingt alle Marktteilnehmer, neu zu denken. Es ist immer eine große Herausforderung für uns Menschen, gewohnte Wege zu verlassen und neue, vielleicht auch noch unerforschte Wege einzuschlagen. Aber genau das bringt uns doch weiter. Insofern ist die Mode auch in diesem Fall wieder einmal ein Spiegel der Gesellschaft.

Ich würde diese Transformation gerne mit dir anhand eines ganz konkreten Beispiels durchdenken, von dem wir beide bzw. unsere Unternehmen sehr direkt betroffen sind. Sind wir uns einig, dass das Ende der Saisonen, wie wir sie kennen, jetzt gerade vollzogen wird? Und damit auch das Ende der Rhythmen, wie wir sie kennen? Weil der Konsument in seiner neuen Rolle und Bedeutung das Prinzip des „See now, buy now, wear now!“ durchsetzen wird?

Wir sind uns völlig einig. Auch aus Gründen der Nachhaltigkeit ist es schlicht notwendig, die Supply Chain neu zu definieren. Wir können nicht so weitermachen. Und das sage ich jetzt nicht aus einer moralischen Position heraus. Predigen liegt mir nicht. Aber es wird schlicht auch eine ökonomische Notwendigkeit werden, mit Ressourcen und vor allem natürlich auch mit Menschen anders umzugehen. Geschäftsmodelle, die auf Ausbeutung unserer Ressourcen aufbauen, werden zunehmend teurer und damit unökonomisch. Und das ist auch völlig richtig so. Es ist alles da. Die Technologien sind da, der Markt ist da, letztlich ist auch die Gesellschaft bereit für diesen Wandel. Wir sollten wieder viel mehr Vertrauen haben in unsere Kreativität, in unsere Fähigkeit, uns weiterzuentwickeln und uns an veränderte Bedingungen intelligent anzupassen. Sage ich damit, dass das mal eben so ganz locker geht? Natürlich nicht. Das ist ohne Frage eine wirklich epochale Herausforderung. Aber wenn wir das als Chance begreifen, als Opportunität und uns mit einem positiven Gestaltungswillen darauf einlassen, dann können dabei so viele gewinnen.

Optimismus als Gebot der Stunde?

Mit Jammern ist bekanntlich noch nie etwas besser geworden …

Wenn der saisonale Rhythmus, der ja bis heute in weiten Teilen den Takt der Modebranche bestimmt, also ein Auslaufmodell ist, was bedeutet das denn nicht zuletzt für die Premium bzw. für Messen, wie wir sie kennen im Allgemeinen? Und übrigens auch für style in progress?

Wir sind 2002 angetreten mit der Vision, Modemessen neu zu definieren. Und das ist uns, diese kleine Unbescheidenheit darf ich mir erlauben, in vieler Hinsicht auch gelungen. Und jetzt stehen wir erneut vor dieser Aufgabe. Übrigens nicht erst seit heute. Das ist ein Prozess, den wir nicht zuletzt mit den bereits erwähnten neuen Formaten längst eingeleitet haben und der uns täglich beschäftigt. Die Idee eines Marktplatzes, an dem Menschen zusammenkommen, um sich auszutauschen, Handel zu treiben, Neues zu finden oder zu präsentieren, zu lernen oder einfach auch Spaß zu haben, wird immer aktuell sein. Aber wie kann dieser Marktplatz auch in Zukunft funktionieren. Angesichts völlig neuer Marktbedingungen? Wir müssen das vordenken, Impulse setzen, unsere Partner auch fordern. Und umgekehrt auch offen sein für Feedback und Ideen. Denn das sind wir. Ein Marketplace of Ideas, für ALLE Marktteilnehmer. Dass wir diesen Marketplace auch in Zukunft brauchen, vielleicht sogar dringender denn je, steht für mich außer Zweifel.

Das Konzept, dass die Verkäufer einfach auf der Fläche stehen und einfach darauf warten, dass die Einkäufer oder eben Kunden kommen, ist insgesamt outdated. Nicht nur auf Messen. Das funktioniert auch im Handel nicht mehr.

Und darauf müssen wir gemeinsam Antworten finden. Viele unserer Partner setzen sich aktiv damit auseinander und suchen nach neuen Ansätzen, die Marke zu präsentieren. Drykorn oder Baldessarini beispielsweise setzen auf Aktivierung. Ganzheitlich gedacht, entsteht daraus ein völlig neuer Mehrwert, der B2B und D2C ideal verbindet. Vom echten Content für Social Media bis hin zur Umsetzung am Point of Sale mit Handelspartnern. Das ist in meinen Augen zeitgemäße Markenführung.

So einfach, wie das klingt, ist es aber wahrscheinlich nicht. Was ist die Geheimzutat?

Empathie! Ich behaupte jetzt, und du weißt um meine große Behauptungskompetenz, dass Empathie eine der entscheidenden Eigenschaften oder Fähigkeiten für die Zukunft unserer Branche ist. Denn Empathie ist der Schlüssel, um Communitys wirklich zu verstehen.

Warum habe ich eigentlich das Gefühl, dass wir gerade die ganze Zeit über The Ground reden?

Tatsächlich ist The Ground das Format, in dem vieles, was wir hier besprechen, zusammenfließt. Viele bezeichnen das ja nach wie vor fälschlicherweise als Endverbrauchermesse. War es nie, war auch nie der Plan. The Ground wird, über neue Rhythmen haben wir ja schon gesprochen, einmal im Jahr im Sommer an den Start gehen. Als Übersetzung der von mir beschriebenen Transformation des linearen Marktes zu einem interaktiven Circle, in dem sich alle Teilnehmer wechselseitig beeinflussen. Da müssen wir übrigens auch selbst noch viel lernen und entwickeln. Aber in The Ground steckt der Funke für die nächsten 20 Jahre.

Siehst du dich eigentlich unter Zugzwang, wie manche meinen?

Alle stehen unter einem gewissen Zugzwang. Zwang ist ohnehin etwas, was so gar nicht zu mir passt. Zwang führt uns auch nicht in die Zukunft. Ich setze lieber auf Neugier und Empathie. Im Übrigen stehen wir alle vor den gleichen Herausforderungen. Das betrifft nicht nur die Messen, sondern die gesamte Branche und darüber hinaus.

Abschließend noch ein Blick auf die ganz nahe Zukunft. Was erwartet uns im Januar in Berlin?

Knapp 500 tolle Brands, noch viel mehr tolle Menschen. Und natürlich werden wir es dem Anlass entsprechend ordentlich krachen lassen. Feiern können wir nämlich am besten!

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