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„In einer Galerie werden meine Werke zum Besitzobjekt“ | Miramar

„In einer Galerie werden meine Werke zum Besitzobjekt“ | Miramar

Als Tochter einer irakischen Familie wurde die 23-jährige Miramar Muh’d in Amman, Jordanien, geboren. Sie wuchs in einer Künstlerfamilie auf, arbeitete erst klassisch und verlegte sich später auf Streetart, die ihr weltweite Beachtung einbrachte. Ihre Murals thematisieren Ungerechtigkeit und die Unterdrückung von Frauen.

Interview: Stephan Huber. Fotos: Miramar

Waren die Wochen des Lockdowns ein Wendepunkt für dich als Person und Künstlerin?

Als jemand, die gewöhnt daran ist, jeden Tag aus dem Haus zu gehen, war es anfangs schwer. Mit der Zeit begann ich, die Abgeschiedenheit zu mögen und die Ungewissheit zu akzeptieren. Das hat mich zu dem Schluss gebracht, dass Sicherheit auch in Zeiten der Stabilität nur eine Illusion ist. Als Künstlerin war es furchtbar. Mein Studio mit all meinen Materialien und Werkzeugen ist weit weg von meinem Zuhause, während der zwei Monate Lockdown hatte ich darauf keinen Zugriff. Am Anfang war das schwer. Nach und nach fand ich alternative Materialien und zum Glück auch etwas Ton. An Skulpturen wollte ich mich immer schon versuchen, jetzt war also der perfekte Zeitpunkt gekommen. Also habe ich zum ersten Mal eine Männerfigur aus Ton erschaffen.

Deine Biografie ist spannend: Du bist Tochter einer irakischen Familie, wirkst heute in Amman, Jordanien. Als Frau. Ich weiß, dass das heute keine Rolle spielen sollte, aber in der Tat tut es das immer noch. Was hat deinen Weg in die Kunst vorgezeichnet?

Aufgrund der politischen Aktivität meines Vaters lebt unsere Familie in Amman, im Exil. Was meinen Weg in die Kunst bestimmt hat, ist meine Überzeugung, dass Menschen, egal welchen Geschlechts, ein tiefes Bedürfnis nach Ausdruck haben. Ich denke eigentlich nie über mein Geschlecht nach, nur wenn ich darauf hingewiesen werde. Das mag eigenartig klingen, aber diese wohl etwas unnatürliche Art, das Geschlecht nicht wahrzunehmen, hat mich davor bewahrt, den Geschlechterrollen der Gesellschaft zu folgen, und hat es mir innerlich ermöglicht, all die Grenzen zu überschreiten, die mit ihnen verbunden sind. Natürlich bin ich auch mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung konfrontiert, aber immer wenn ich auf einer Arbeitsbühne von einem Haus hänge und diese riesigen Murals schaffe, dann ist es der für manche wohl sehr schockierende Beweis, dass ich das als Frau auch kann.

Insbesondere die Streetart hatte immer eine wichtige gesellschaftspolitische Komponente. Ich habe das Gefühl, dass ihr erzählerischer Charakter wieder besonders wichtig wird. Was denkst du darüber? Vermittelst du Botschaften mit deiner Kunst?

Ich glaube, dass Kunst als Kommunikationsinstrument, als Katalysator für gesellschaftlichen Wandel wirkt, indem sie persönliche Erfahrungen zugänglich macht und ihnen Form und Struktur verleiht. Sie fördert das Verständnis, weil durch sie zum Beispiel Minderheiten eine Plattform geboten wird und diese plötzlich in den öffentlichen Diskurs einbezogen werden. Diesem Ansatz, das Bewusstsein zu fördern, bin ich treu, seit ich mit 19 Jahren begonnen habe, Porträts zu fertigen. Mit ihnen habe ich meine Technik verfeinert und begonnen, einen Stil zu etablieren. Ich betone in meiner Arbeit den emotionalen Ausdruck, Verletzlichkeit und Intimität. Ich bemerkte relativ schnell, dass der enge Raum einer Galerie dafür nicht der richtige Ort ist. Zum einen wird meine Kunst dort vom Werk zum Besitzobjekt. Zum anderen sehen es so wenige Menschen, da verhallt der Effekt, einen gesellschaftlichen Wandel anstoßen zu wollen. Die Lösung war Streetart, denn so kann meine Zielgruppe in Amman mit den Werken interagieren und sie ist nicht mehr museal, sondern lebendig und in die Landschaft der Stadt verflochten. Mit Streetart möchte ich Werke schaffen, die sich aus unseren Bedürfnissen speisen und die Kunst zugänglich und inklusiv machen. Für die breite Öffentlichkeit, anstatt nur für eine soziale Elite in White Cubes ausgestellt zu werden.

„Das mag komisch klingen, aber bevor ich in die Streetart kam, verstand ich nicht, warum Skateboarder und Straßenkünstler sich so kleiden. Bis ich selbst auf der Straße arbeitete“, sagt die 23-jährige Street Art Künstlerin Miramar aus Amman.

Kunst, nicht zuletzt Streetart, hatte und hat einen starken Einfluss auf Stil und Trends. Wirkt Mode umgekehrt auch auf dich?

Das mag komisch klingen, aber bevor ich in die Streetart kam, verstand ich nicht, warum Skateboarder und Straßenkünstler sich so kleiden. Bis ich selbst auf der Straße arbeitete. Nach und nach begann sich meine Garderobe hin zu Streetwear zu drehen. Es ist ganz schön anspruchsvoll, sich so zu kleiden, dass man sich wohlfühlt, dass es praktisch ist und man ein selbstbewusstes Bild abgibt. Streetwear macht genau das – man fühlt sich darin auf der Straße wie zu Hause.

Interdisziplinarität ist einer der wichtigsten Triebkräfte der Kreativität. Was sind deine Quellen und Inspirationen?

Zu Beginn meiner Reise, als Studiokünstlerin, trieb mich vor allem mein Instinkt, mich ausdrücken zu wollen. Die visuellen Reize kamen hauptsächlich aus meinem familiären Hintergrund, unser Zuhause war mir Inspiration und Wissensquelle zugleich. Mir wurde die Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, Kunst fungierte als eine Form der Therapie und half mir, Herausforderungen zu bewältigen. Die Kunst lehrte mich, dass es keine Grenzen gibt, ich habe ganz neue Seiten meiner Persönlichkeit kennen gelernt. Ich war besessen, meinen expressiven Horizont zu erweitern, ich habe an meiner Technik gefeilt und meine Ästhetik immer weiter verfeinert. So kam ich auf diese minimalen Farbschemata und Kompositionen, die zwischen Stärke, Verwundbarkeit und Intimität changieren. Irgendwann reichte mir die Leinwand aber nicht mehr. Ich brauchte größere Maßstäbe und so kam ich zu Murals. Dieser Übergang vom kleinen Format zur großen Wand brachte Leichtigkeit, es eröffnete mir die Möglichkeiten, zu neuen kreativen Experimenten und Medien. Streetart ist ein von Natur aus öffentliches Medium, das nicht in den Wände einer Galerie gefangen ist. Das Arbeiten an meinen Werken fühlt sich eher kollektiv als individuell an. Die Kunstwerke verlieren ihre Fixierung in Raum und Zeit, sie sind lebendig, erzeugen Reaktionen und unterschiedliche Formen der Interaktion zwischen Künstler und Publikum. Wenn ich im Freien arbeite, fühle ich mich oft, als wäre ich eins mit der Öffentlichkeit, die sich durch mich ausdrückt. Meine Erfahrungen als Straßenkünstlerin lassen mich fest daran glauben, dass Kunst Solidarität innerhalb von Gemeinschaften fördern kann. Weil ich als weiblicher Streetartist selbst eine Minderheit darstelle, sind oft Frauen in meinen Werken zu sehen – das ist mein Beitrag, Geschlechterrollen neu zu definieren. Und natürlich ist die Brücke, die ich als Künstlerin schlage, für mich sehr wichtig – weil ich im Studio und auf der Straße arbeite, weil ich herkömmliche Kunst und Streetart mache. Das mag so gegensätzlich sein wie Yin und Yang, aber genau dieser Gegensatz inspiriert mich und bereichert meine Konzepte.

Instill führt dich in der Liste der 50 Frauen, die die Welt im Jahr 2020 gestalten werden. Was bedeutet dir das?

Das ehrt mich sehr und es hilft, meiner Kunst noch mehr Kraft zu verleihen.

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