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One Size fits One | Digitalisierung als Zauberformel

One Size fits One | Digitalisierung als Zauberformel

One Size
Digitalisierung ist die Zauberformel, die die Modebranche nach dem Corona-Tief wieder auf Spur bringen wird. Doch erst wenn Digitalisierung mit Personalisierung vermählt wird, ist die Zukunftsvision perfekt.  

Was war das Ansinnen der ersten Konfektionäre unverschämt! Statt wie bis dahin üblich auf individuelle Maßfertigung zu setzen, war ihr Geschäft, Produkte in Standardgrößen in Serie zu bringen. Die Pamphlete der Maßschneider gegen diese Ende des 18. Jahrhunderts geborene Revolution lesen sich erstaunlich bekannt – denn sie sind den Fortschrittsverweigerern von heute so ähnlich. Das Schreckgespenst ist damals wie heute das gleiche: Wenn erst die neue Technik übernommen habe, wäre alles nur noch eine vorhersagbare Sauce ohne jeden Funken Kreativität und Individualität…  

Fortschritt ist menschlich 

Den Teufel an die Wand zu malen, hat schon damals dem Fortschritt keinen Einhalt gebieten können. Dass die Herstellung von Mode vom Handwerk zur arbeitsteiligen Industrie wuchs, hat aus einem marginalen Wirtschaftszweig einen weltumspannenden Industriezweig gemacht, der Kleinstbetrieben genauso nährt wie Megakonzerne. Sie alle haben die Konfektion in all ihren Spielarten perfektioniert, die Maßschneiderei ist die seltene Ausnahme geworden. Und nun dämmert der nächste Morgen.  

Wohin geht die (digitale) Reise 

Der Blick in die Modegeschichte vermag uns in dieser Dämmerung den Weg zu leuchten.: Wetterten die Konfektionsgegner zum Beispiel anno dazumal mit dem Argument, menschliche Arbeitsplätze würden verlorengehen, ist heute das schiere Gegenteil der Fall: Weltweit ist jeder dritte Job ist direkt oder indirekt mit der Textilbranche verbunden. Mode ist global gesehen einer der größten Wachstumsmotoren, selbst die Corona-Pandemie konnte den Aufwärtstrend nicht stoppen. Allein der Umsatz im Bekleidungssegment soll laut Statista 2021 global etwa 455.287 Millionen Euro betragen und jedes Jahr um 7,3 Prozent wachsen.   

Aber erst mal: das Problem lösen 

Dieser beeindruckende Aufwärtstrend allerdings hat unermessliche Schattenseiten. Nur mehr 0,4 bis 1 Prozent der Kosten eines Bekleidungsstücks werden im globalen Durchschnitt für die Bezahlung der Menschen aufgewendet, die es fertigen. Die Umwelt zahlt einen horrenden Preis für immer billiger werdende Klamotten. Dass man heute so niedrigschwellig und zu verschwindenden Kosten in Serie gehen kann, ist definitiv eher Fluch als Segen. Es heizt die globale Überproduktion immer weiter an. Auch wenn in den Spitzen der Modebranche längst Nachhaltigkeit und Slow Fashion gepredigt werden, der Wein, den wir tagtäglich trinken, ist blutrot.  

Beendet die Konformität 

Möglichst vielen Menschen das möglichst gleiche in möglichst den gleichen Größen in möglichst gleichen Geschäften in möglichst gleich organisierten Ländern zu verkaufen – diese Zauberformel hat die Bekleidungsindustrie perfektioniert. Möchte man zumindest meinen – doch der Blick hinter die Kulissen entlarvt die Lüge: Der Ansatz der größtmöglichen Konformität hinkt gewaltig, was hier Renner ist, ist dort Penner. Dabei ließe die Datenlage längst andere Schlüsse zu: Intelligente Forecast-Programme sind heute bereits in der Lage, die Unschärfen in den Bedarfs- und Absatzprognosen drastisch zu reduzieren. Auf evidenzbasierte Trend- oder Farbprognosen zu setzen, macht ein Produkt ebenfalls präziser. Und die volldigitalisierte Produktion, in der sich historische, aktuelle und zukünftige Zahlen zur Steuerung vermählen, ist keine Utopie, sondern Realität.  

Die Urangst vor der Maschine 

Diese Zahlengewalt macht Angst: Wir Menschen fürchten (das wievielte Mal eigentlich in unserer Geschichte?), dass die Maschinen übernehmen. Wir argwöhnen, dass die computergesteuerte Ratio plötzlich das Maß aller Dinge sei, der Mensch in den Entscheidungsprozessen keinen Platz mehr habe. Noch dazu, da viele dieser digitalen Tools und Produktivitätsbooster auf künstlicher Intelligenz fußen. Das stachelt die Fantasie unserer Höhlenmenschenhirne zu einem atemberaubenden Galopp an – und plötzlich finden wir uns in Hypothesen, die eines Science-Fiction-Blockbusters würdig wären. Zu Hilfe, die Maschinen übernehmen?! 

Das Heilsversprechen: Individualität  

Das genaue Gegenteil ist der Fall: Digitale Methoden, ob im Entwurf oder in der Fertigung, entfachen die Kreativität der Designerinnen und Designer wie es in der Mode schon lange nicht mehr der Fall war. Und nicht nur die bunte Seite der Mode profitiert, auch die Zahlenmenschen träumen neue, kühne Träume. Die Skalierbarkeit der passgenauen Produktion ist das Ziel. Allen Zukunftsskeptikern sei dies ins Stammbuch geschrieben: Das Ideal, dem alle nacheifern, ist ein im höchsten Maße menschliches – nämlich Individualität. Um diese zu erzielen, muss die gesamte Magie, die die Mode zu einem Peoples Business macht, abgebildet werden. Statt einem Kuchen, aus dem Rosinen gepickt werden, soll es künftig nur noch Rosinen geben. Fällt die fade Masse rund um diese weg, ist das Himmelreich nahe.  

Den Weg zurück gibt es nicht 

Das klingt nach back to the roots? Nach der schönen heilen Welt von damals, in der alle wieder zum Schneider gehen und nur das kaufen, was sie wirklich brauchen? Wie rückwärtsgewandt diese romantische Schäferidylle ist, macht ein Blick in die Modegeschichte klar: Ungefähr ab 1790 hat die arbeitsteilige Herstellung von Bekleidung in Europa Fahrt aufgenommen. Das Rad der Zeit bis in die Ausläufer des 18. Jahrhunderts zurückdrehen? Eine Illusion. Denn selbstverständlich muss die volldigitalisierte modische Rosinenproduktion des 21. Jahrhunderts heutigen Standards, Technologien und Realitäten entsprechen. Mit einem entscheidenden Unterschied: Das Geld, das in einer treffsicheren modernen Massenindividualität gespart wird, darf nicht ausschließlich in die jetzt schon prall gefüllten Taschen fließen. Politik und Gesellschaft müssen Sorge tragen, dass an diesem Fortschritt alle partizipieren: Konsumenten, Produzenten und unsere Umwelt.  

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